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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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noch Schatten, machtlose Schatten. Versuche nicht, mir Furcht einzujagen, Verzehrte! Du bist die Erste Priesterin – und bedeutet das nicht, daß du auch die Letzte bist? – Mich kannst du nicht hinters Licht führen. Ich schaue dir ins Herz. Die Dunkelheit verbirgt nichts vor meinen Augen. Sei vorsichtig, Arha!«
    Sie wandte sich um und entfernte sich in ihrem langsamen, wuchtigen Gang, bewegte sich unaufhaltsam auf die weiße Säulenpracht des gottköniglichen Tempels zu. Ihre großen, schweren, in Sandalen stekkenden Füße zermalmten das mit Rauhreif bedeckte Unkraut unter sich.
    Arha, dunkel und schmal, stand im vorderen Hof des Großhauses, als sei sie am Boden festgefroren. Nichts rührte sich um sie, niemand bewegte sich außer Kossil, alles schien erstarrt, das weite Land um Hof und Tempel, die Hügel, die Wüste, die Berge.
    »Mögen die Dunklen deine Seele verzehren, Kossil!« schrie sie. Wie ein Falkenschrei hallte es über die Stätte; mit hocherhobenem Arm und ausgestreckter Hand schmetterte sie die Verwünschung gegen Kossils Rükken, gerade als diese den Fuß auf die Treppe des Tempels setzte. Kossil zuckte zusammen, aber sie hielt nicht inne, wandte sich nicht um. Sie setzte ihren Weg fort und betrat durch das Portal den Tempel des Gottkönigs.
    Arha verbrachte den Tag auf der untersten Stufe vor dem Leeren Thron sitzend. Sie wagte nicht, das Labyrinth zu betreten, sie wollte nicht mit anderen Priesterinnen zusammen sein. Schwer lag es auf ihr und hielt sie dort im trüben Dämmerlicht der weiten Halle fest, Stunde um Stunde. Sie starrte auf die Doppelreihe der dicken, bleichen Säulen, die sich in der Düsternis am anderen Ende der Halle verloren, auf die Sonnenstrahlen, die durch die Lücken in der Decke fielen, auf den dicken, sich ringelnden Rauch, der von den glühenden Kohlen in den Bronzeschalen aufstieg. Mit den kleinen Mäuseknochen, die auf den Marmorstufen lagen, zeichnete sie Figuren in den Staub. Sie hielt den Kopf gesenkt, doch ihre Gedanken jagten und überstürzten sich. Wer bin ich? fragte sie sich und erhielt keine Antwort.
    Manan kam schlurfend die Halle herauf, zwischen den Doppelreihen der Säulen, lange nachdem sich das letzte Tageslicht durch die Löcher des Daches hereingestohlen hatte, und die Kälte ringsum sich zu verschärfen begann. Manans Mondgesicht sah betrübt aus. Er blieb in einiger Entfernung stehen und ließ seine Arme an den Seiten herunterhängen, ein Stück abgerissener Saum von seinem alten Umhang hing auf seine Ferse nieder.
    »Kleine Herrin!«
    »Was ist los, Manan?« fragte sie müde und blickte ihn voller Zuneigung an.
    »Kleines, laß mich das tun, was du gesagt hast … wovon du behauptet hast, daß es schon geschehen sei. Er muß sterben, Kleines. Er hat dich verzaubert. Sie wird sich rächen. Sie ist alt und grausam, und du bist noch zu jung. Du bist noch nicht stark genug.«
    »Sie kann mir nichts antun.«
    »Wenn sie dich töten würde, vor allen anderen, wo es jeder sehen könnte, selbst dann gäbe es keinen im ganzen Reich, der es wagen würde, einen Finger gegen sie zu erheben. Sie ist die Hohepriesterin des Gottkönigs, und der Gottkönig herrscht allein. Aber sie wird dich nicht öffentlich töten, sie wird es heimlich tun, mit Gift, in der Nacht.«
    »Dann werde ich wiedergeboren.«
    Manan rang seine großen Hände. »Vielleicht wird sie dich nicht töten«, flüsterte er.
    »Was meinst du damit?«
    »Sie könnte dich in einem Raum im … dort unten … wie du es mit ihm getan hast. Und du würdest noch jahrelang, noch viele Jahre vielleicht, am Leben bleiben. Und es gäbe keine wiedergeborene Priesterin, denn du wärest ja nicht tot. Doch auch keine Priesterin der Gräber mehr, die Tänze der Mondfinsternis blieben ungetanzt, keine Opfer würden mehr dargebracht und kein Blut mehr vergossen, auf daß die Verehrung der Dunklen Mächte verkümmere und verlösche für immer. Sie und ihr Gebieter hätten das gern.«
    »Die Mächte würden mich freisetzen, Manan.«
    »Nicht, solange sie zornig auf dich sind, kleine Herrin!« flüsterte Manan.
    »Zornig?«
    »Wegen ihm … Die Schändung, die nicht gerächt wurde. Oh, Kleines! Sie kennen kein Vergeben!«
    Sie saß im Staub auf der untersten Stufe und hielt den Kopf gesenkt. Sie schaute das winzige Ding an, das sie in der Hand hielt: den Schädelknochen einer Maus. Die Eulen im Dachgebälk über dem Thron bewegten sich leise, es wurde dunkler, die Nacht nahte.
    »Geh heut’ nacht nicht ins

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