Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
auf sie wartete. Die Besuche bei dem Gefangenen beunruhigten ihn. Sie ließ nicht zu, daß er sie den ganzen Weg über begleitete, und so hatten sie diesen Kompromiß geschlossen. Jetzt war sie froh, daß er hier bei der Hand war. Ihm konnte sie wenigstens vertrauen.
»Manan, hör zu! Du gehst jetzt zum Bemalten Raum und sagst zu dem Mann, daß du ihn unter die Gräber führst, wo er lebendig begraben wird.« Manans kleine Augen glitzerten. »Sag das laut! Schließ die Kette auf und führ ihn …« Sie hielt inne, denn sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, wo sie den Gefangenen am besten verbergen könnte.
»… zum Untergrab«, sagte Manan, eifrig mit dem Kopf nickend.
»Nein, du Dummkopf. Ich habe gesagt, daß du das sagen sollst, nicht tun . Warte …«
Wo wäre er sicher vor Kossil und ihren Spionen? Nirgends, außer an den allertiefsten, allerheiligsten unterirdischen Orten, an den verstecktesten Plätzen im Bereich der Namenlosen, wohin sie nicht zu gehen wagte. Doch würde sich Kossil nicht fast überallhin trauen? Angst hatte sie bestimmt vor den finsteren Orten, große Angst sogar, aber sie war in der Lage, ihre Angst zu überwinden, um ihre Ziele zu erreichen. Es war unmöglich festzustellen, wie gut sie sich den Plan des Labyrinths eingeprägt hatte, den ihr Thar oder die ehemalige Arha verraten hatte oder den sie aufgrund ihrer eigenen geheimen Untersuchungen in den vergangenen Jahren kannte. Arha vermutete, daß Kossiol mehr wußte, als sie zugab. Aber einen Weg konnte sie nicht in Erfahrung gebracht haben; dieser Weg war ein Geheimnis, das tiefste, bestgehütete Geheimnis.
»Du mußt den Mann dorthin bringen, wohin ich dich jetzt führe, und es muß im Dunkeln geschehen. Und wenn ich dich zurückgebracht habe, mußt du hier, im Untergrab, ein Grab schaufeln und einen Sarg anfertigen, ihn leer in das Grab stellen und das Grab wieder mit Erde zuwerfen, damit etwas da ist, wenn jemand danach sucht. Bereite ein tiefes Grab! Hast du alles verstanden?«
»Nein«, sagte Manan, mißmutig und verdrießlich. »Kleines, diese Betrügerei ist nicht klug, gar nicht klug. Ein Mann hat hier nichts verloren! Ein Strafgericht wird hereinbrechen …«
»Einem alten Narren wird die Zunge herausgeschnitten, ja! Du wagst mir zu sagen, was klug ist? Ich beuge mich dem Willen der Dunklen Mächte. Folge mir!«
»Es tut mir leid, kleine Herrin, es tut mir leid …«
»Schweig!«
Sie kehrten zum Bemalten Raum zurück. Dort wartete sie im Gang, während Manan eintrat und die Kette von dem Ring an der Wand losmachte. Sie hörte die tiefe Stimme fragen: »Wohin jetzt, Manan?« Und die rauhe Altstimme antwortete mürrisch: »Du sollst lebendig begraben werden, so gebietet es meine Herrin. Unter den Grabsteinen. Steh auf!« Sie hörte die schwere Kette knallen wie eine Peitsche.
Der Gefangene kam heraus, seine Arme waren mit Manans Lederriemen gefesselt. Manan kam hinterher und hielt ihn wie einen Hund an der Leine fest, aber das Band führte um seine Taille, und die Leine war aus Eisen. Seine Augen wandten sich ihr zu, doch sie blies ihre Kerze aus, und ohne ein Wort zu sagen, schritt sie in die Dunkelheit hinein. Sie nahm sofort die Gangart an, die sie sich im Labyrinth angewöhnt hatte, wenn sie kein Licht dabei hatte: langsame, aber gleichmäßige Schritte; mit den Fingerspitzen die Wände links und rechts berührend, leicht und fast ohne abzusetzen. Manan und der Gefangene kamen schlurfend und stolpernd hinterher; wegen der Kette bewegten sie sich viel schwerfälliger. Aber es mußte dunkel bleiben, denn sie wollte nicht, daß einer von ihnen sich den Weg merkte.
Links aus dem Bemalten Raum hinaus, an zwei Öffnungen rechts an der Viererkreuzung vorbei, eine Öffnung rechts liegen lassen, dann einen langen, geschwungenen Gang entlang und eine Treppe hinunter, eine lange Treppe mit schlüpfrigen Stufen, viel zu schmal für menschliche Füße. Weiter als diese Stufen war sie noch nie gekommen.
Die Luft war schlechter hier, abgestandener, und hatte einen durchdringenden Geruch. Die Anweisungen waren ihr ganz gegenwärtig; sie glaubte, Thars Stimme zu vernehmen, die ihr die Anhaltspunkte vorsagte. Immer weiter die Stufen hinunter (sie hörte, wie hinter ihr der Gefangene in der Finsternis stolperte und stöhnte, als ihn Manan mit einem kräftigen Ruck wieder auf die Füße stellte) und unten sofort nach links abbiegen. Halte dich links, an drei Öffnungen vorbei, dann die erste rechts und ganz rechts gehen.
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