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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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und er wie ein kleiner, goldener Fleck aussah, kreiste ein Vogel, ein Falke oder ein Adler der Wüste.
    »Ich bin Tenar«, sagte sie, nicht laut, und sie zitterte vor Kälte, vor Schreck, von innerem Aufjauchzen, unter dem weiten, sonnenhellen Himmel. »Ich habe meinen Namen wieder. Ich bin Tenar.«
    Der goldene Fleck wandte sich nach Westen, den Bergen zu, und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Morgensonne vergoldete die vorragenden Firstbalken des Kleinhauses. Drunten in den Pferchen bimmelten die Glocken der Schafe. Und diesen Geruch des Holzfeuers und der frischen Buchweizenfladen trug der leichte, frische Wind vom Kamin der Küche herüber.
    »Ich bin so hungrig … Woher wußte er es? Woher wußte er meinen Namen? … Oh, ich muß etwas essen, ich bin so hungrig …«
    Sie zog ihre Kapuze über den Kopf und rannte zum Frühstück. Das Essen nach dem dreitägigen halben Fasten kräftigte sie und verlieh ihr Standfestigkeit, ihre Bewegungen waren nicht mehr so zerfahren, ihre Gedanken wirbelten nicht mehr so durcheinander, waren nicht mehr so aufgewühlt. Nach dem Frühstück fühlte sie sich stark genug, mit Kossil fertig zu werden.
    Sie holte die große, schwere Gestalt auf dem Weg aus dem Speisesaal des Großhauses ein und ging neben ihr her. Mit unterdrückter Stimme sagte sie: »Ich habe den Eindringling aus dem Weg geschafft … Wie schön es heute ist!«
    Die kalten, grauen Augen unter der schwarzen Kapuze musterten sie prüfend von der Seite.
    »Ich dachte, die Priesterin darf drei Tage nach einem menschlichen Opfer kein Essen berühren?«
    Das stimmte. Arha hatte es vergessen, und man sah ihrem Gesicht an, daß sie es vergessen hatte.
    »Er ist noch nicht tot«, sagte sie in demselben, gleichgültigen Ton, der ihr kurz zuvor noch so leicht gefallen war. »Er wurde lebendig begraben. Unter den Gräbern. In einem Sarg. Etwas Luft muß noch drinnen sein, denn der Sarg ist nicht versiegelt, er ist aus Holz. Der Tod wird ziemlich langsam kommen. Wenn ich weiß, daß er tot ist, werde ich mit dem Fasten beginnen.«
    »Wie werden Sie das wissen?«
    Verwirrt blickte sie auf und zögerte wieder mit der Antwort: »Ich werde es wissen. Der … Meine Gebieter werden es mir sagen.«
    »Ach so! Wo ist das Grab?«
    »Unter den Steinen. Ich sagte Manan, daß er es unter dem glatten Stein graben soll.« Sie mußte sich zusammennehmen und nicht so schnell in diesem dummen, beschwichtigenden Ton antworten. Sie mußte Kossil gegenüber ihre Würde bewahren.
    »Lebendig, in einem Holzsarg? Das ist eine gefährliche Sache bei einem Hexenmeister, Herrin! Haben Sie sich vergewissert, daß er nicht sprechen und keine Zaubereien wirken kann? Sind seine Hände gefesselt? Sogar damit kann er Zauberei bewerkstelligen, manchmal genügt eine Fingerbewegung, selbst nachdem man ihnen die Zunge herausgeschnitten hat.«
    »Mit seiner Hexerei ist es nicht weit her. Nichts als Betrügerei«, sagte Arha und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Er ist begraben, und meine Gebieter warten auf seine Seele. Alles andere geht Sie, Priesterin, nichts an.«
    Jetzt war sie zu weit gegangen; andere hatten es gehört, Penthe, ein paar weitere Mädchen, Duby und die Priesterin Mebbeth, alle befanden sich in Hörweite. Die Mädchen waren ganz Ohr, und Kossil war sich dessen bewußt.
    »Alles, was hier geschieht, geht mich etwas an, Herrin! Und alles, was hier an der Stätte vor sich geht, fällt auf den Gottkönig zurück, den Unsterblichen, dessen Dienerin ich bin. Er hat das Recht, die unterirdischen Stätten zu durchforschen, er blickt in die Herzen der Menschen, und keiner kann ihm den Zutritt dazu verwehren!«
    »Ich tue es. Keiner betritt die Gräber, wenn die Namenlosen es nicht gestatten. Sie bestanden schon, als es noch keinen Gottkönig gab, und sie werden bestehen, wenn es keinen Gottkönig mehr gibt. Sprechen Sie behutsam von ihnen, Priesterin! Rufen Sie ihre Rache nicht auf sich herab! Sie werden in Ihren Träumen zu Ihnen kommen, sie werden sich in Ihre Seele schleichen auf dunklen Wegen. Den Wahnsinn werden sie bringen!«
    Die Augen des Mädchens blitzten. Kossils Gesicht war verdeckt, von der schwarzen Kapuze verborgen. Penthe und die anderen sahen erschreckt und gebannt aus der Ferne zu.
    »Sie sind alt.« Kossils Stimme drang leise aus der Tiefe der Kapuze, ein dünner, pfeifender Tonfaden. »Sie sind alt. Nur hier werden sie noch verehrt. Nirgends sonst auf der Welt wird ihnen noch gehuldigt. Ihre Macht ist vergangen. Es sind nur

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