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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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sie sich beruhigt hatte, hob er sie hoch und setzte sie wie ein Kind auf die große Truhe, auf der er gelegen hatte. Er legte seine Hand auf die ihren.
    »Warum hast du geweint, Tenar?«
    »Ich werde es dir sagen. Es ist jetzt ohnehin gleichgültig. Du kannst doch nichts ausrichten. Du kannst nicht helfen. Du wirst ja auch sterben. Alles ist jetzt einerlei, alles! Kossil, die Priesterin des Gottkönigs – sie war schon immer grausam –, sie versuchte, mich soweit zu bringen, daß ich dich töte. So wie ich die anderen getötet habe. Und ich tat es nicht. Welches Recht hat sie! Und sie forderte die Namenlosen heraus und verhöhnte sie, und ich habe sie verwünscht. Und seither habe ich Angst vor ihr, denn was Manan sagt, stimmt, sie glaubt nicht an die Götter. Sie will, daß sie vergessen werden, und sie hätte mich im Schlaf getötet. Und so schlief ich nicht. Ich bin nicht ins Kleinhaus zurückgegangen. Die ganze vergangene Nacht verbrachte ich in der Thronhalle und auf dem Speicher, in dem die Tanzgewänder hängen. Bevor es Tag wurde, ging ich zum Großhaus und habe etwas Essen gestohlen, und dann ging ich zurück in die Halle und blieb den ganzen Tag dort. Ich wollte mir überlegen, was ich nun tun soll. Und heute nacht – heute nacht war ich so müde, und ich dachte, ich könnte vielleicht an einen der heiligen Plätze gehen und dort schlafen, irgendwo, wo sie sich fürchtet hinzugehen. Und so ging ich ins Untergrab, das große Gewölbe, wo ich dich zum ersten Mal sah. Und … und dort war sie. Sie muß durch die rote Felsentür gekommen sein. Sie hatte eine Laterne mitgebracht und scharrte auf dem Grab herum, das Manan geschaufelt hatte, um zu sehen, ob eine Leiche darin war. Wie eine große, fette Ratte, die Beute wittert. Licht brannte an diesem Heiligen Ort, und die Namenlosen duldeten es und rührten sich nicht. Sie töteten sie nicht, sie brachten keinen Wahnsinn über sie. Sie sind alt, wie sie behauptet, sie sind tot, verschwunden. Ich bin keine Priesterin mehr.«
    Der junge Mann stand bei ihr und hörte zu, seine Hand lag noch auf ihrer, seinen Kopf hielt er leicht gesenkt. Etwas Kraft war in sein Gesicht und in seine Haltung zurückgekehrt, doch die Narben an seiner Wange schimmerten noch blaugrau, und auf seiner Kleidung, auf seinem Haar lag Staub.
    »Ich bin an ihr vorbei durch das Untergrab geschlichen. Ihre Kerze warf mehr Schatten als Licht, und sie hat mich nicht gehört. Ich wollte ins Labyrinth gelangen, weg von ihr. Aber als ich dort war, meinte ich zu hören, daß sie mir folgte. Auch als ich durch die Gänge ging, hörte ich, wie jemand mir folgte. Und ich wußte nicht, wo ich hin sollte. Nur hier, hier, dachte ich, werde ich sicher sein. Ich glaubte, daß meine Gebieter mich schützen und verteidigen würden. Aber sie sind verschwunden, sie sind tot …«
    »Ihretwegen hast du geweint – über ihren Tod? Aber sie sind hier, Tenar, hier!«
    »Woher willst du das wissen?« fragte sie mutlos.
    »Weil ich mich seit dem Augenblick, als mein Fuß das Gewölbe unter den Gräbern betrat, bemühe, sie stille zu halten, ihnen mein Dasein zu verheimlichen. Meine ganze Kunst habe ich aufwenden müssen, meine ganze Macht damit verausgabt. Ich verwob diese Gänge mit einem endlosen Netz von Bannsprüchen, mit Bannsprüchen der Stille, des Schlafes, des Verbergens: und doch spüren sie, daß ich hier bin, spüren es halbwegs, halb schlafend, halb wachend, obwohl ich meine ganze Kraft aufwende. Dies hier ist ein ganz fürchterlicher Ort. Ein Mensch allein ist hier hoffnungslos verloren. Ich war am Verdursten, als du mir Wasser gabst, doch war es nicht das Wasser allein, das mich rettete. Es war die Kraft der Hände, die mir das Wasser reichten.« Als er das sagte, drehte er ihre Hand um, die in seiner ruhte, und besah ihre Innenfläche. Dann ließ er sie los, lief unstet im Raum umher und hielt wieder vor ihr inne. Sie sagte nichts.
    »Glaubst du wirklich, daß sie tot sind? Dein Herz weiß es besser. Sie sterben nicht. Sie sind dunkel und werden nie sterben. Sie hassen das Licht: das kurze, helle Licht unserer Sterblichkeit. Sie sind unsterblich, aber sie sind keine Götter. Noch waren sie es je. Unwert sind sie und unwürdig, von einer menschlichen Seele verehrt zu werden.«
    Sie hörte ihm zu. Ihre Augen waren schwer, und ihr Blick war auf die flackernde Laterne gerichtet.
    »Was haben sie dir je gegeben, Tenar?«
    »Nichts«, flüsterte sie.
    »Sie haben nichts, was sie geben können. Sie haben

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