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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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keine Kraft des Schöpfens. Ihre Kraft ist, Dunkelheit zu bringen und Lebendiges zu zerstören. Diesen Ort hier können sie nicht verlassen. Der Ort besteht aus ihnen, und er sollte ihnen ganz überlassen werden. Sie sollten nicht verleugnet und nicht vergessen, aber auch nicht verehrt werden. Die Welt ist hell und licht und schön, aber das ist nicht alles. Die Erde ist auch dunkel und schrecklich und grausam. Der kleine Hase stöhnt, wenn er auf der grünen Wiese stirbt. Die Gebirge ballen ihre großen kalten Hände um verborgene Feuer. Im Meer lauern Haifische und in den Augen der Menschen funkelt Grausamkeit. Und dort, wo Menschen diese Mächte verehren und sich vor ihnen erniedrigen, dort waltet das Böse, dort werden Stätten errichtet, wo die Finsternis sich verdichtet, Stätten, die ganz denen geweiht sind, die wir die Namenlosen nennen, die uralten, heiligen Mächte dieser Erde, älter als das Licht, die Mächte der Dunkelheit, der Zerstörung, des Wahnsinns … Ich glaube, daß eure Priesterin Kossil schon vor langer Zeit wahnsinnig geworden ist; ich glaube, daß sie in diesen unterirdischen Gewölben herumschleicht wie im Labyrinth ihrer eigenen Seele, und nun kann sie das Licht des Tages nicht mehr wahrnehmen. Sie hat dir gesagt, daß die Namenlosen tot seien; nur eine verlorene Seele, eine Seele, für die es keine Wahrheit mehr gibt, kann das behaupten. Es gibt sie. Aber sie sind nicht deine Gebieter. Noch nie waren sie das. Du bist frei, Tenar. Man hat dich gelehrt, Sklavin zu sein, doch du bist ausgebrochen, du bist frei!«
    Sie hörte ihm zu, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er sagte nichts weiter. Sie schwiegen, versanken aber nicht mehr in der Stille, die bestanden hatte, bevor Arha den Raum betrat. Zwei Menschen atmeten jetzt hier, Leben pulsierte durch ihre Adern, und die Kerze in der Laterne brannte, eine winzige, knisternde, lebendige Flamme.
    »Woher weißt du meinen Namen?«
    Er lief in der Kammer auf und ab, wirbelte den feinen Staub auf und reckte seine Arme und Schultern, um seine kältestarren Glieder wieder ins Leben zurückzurufen.
    »Namen zu wissen und Namen herauszufinden ist mein Handwerk, meine Kunst. Weißt du, um Magie wirken zu können, muß man den wahren Namen eines Dinges, eines Wesens herausfinden. Dort, wo ich herkomme, hält man seinen wahren Namen sein ganzes Leben lang verborgen, nur denjenigen, denen man voll und ganz vertraut, verrät man ihn. Denn in einem Namen steckt große Macht und deshalb große Gefahr. Vor langer, langer Zeit, als Segoy die Inseln der Erdsee aus der Tiefe des Meeres hob, trugen alle Dinge ihren eigenen, wahren Namen. Und die ganze Kunst der Magie, der Zauberei, hängt von diesem Wissen ab – des Wiedererlernens, des Erinnerns dieser wahren, uralten Sprache des Formens und Schöpfens. Natürlich muß man Bannsprüche lernen und wissen, wie die Worte zu gebrauchen sind, und man muß selbstverständlich auch die Folgen kennen. Aber ein Zauberer verbringt sein ganzes Leben damit, Namen herauszufinden und der Kunst zu folgen, wie man Namen herausfinden kann.«
    »Wie hast du meinen herausgefunden?«
    Er schaute sie einen Augenblick lang mit einem tiefen, klaren Blick an, der durch die Schatten zwischen ihnen drang; er zögerte kurz: »Das kann ich dir nicht sagen. Du bist wie ein Licht, das verdeckt und abgeschirmt an einem dunklen Platz verborgen ist. Doch das Licht scheint, sie konnten es nicht auslöschen. Sie konnten dich nicht verstecken. Und so wie ich das Licht kenne, so kenne ich dich und weiß deinen Namen, Tenar. Das ist meine Gabe, meine Macht. Mehr kann ich nicht sagen. Aber jetzt sag du mir : Was willst du jetzt tun?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Kossil hat ein leeres Grab gefunden. Was wird sie nun tun?«
    »Ich weiß nicht. Wenn ich jetzt hinaufgehe, kann sie mich töten lassen. Eine Hohepriesterin, die gelogen hat, muß getötet werden. Sie kann mich auf den Stufen des Altars opfern lassen. Und dieses Mal würde Manan mir wirklich den Kopf abschlagen, anstatt nur das Schwert zu heben und auf die dunkle Gestalt zu warten, die es zurückhält. Dieses Mal bliebe sie fort. Das Schwert würde fallen und meinen Kopf abtrennen.«
    Sie sprach langsam und ausdruckslos. Er dachte angestrengt nach. »Wenn wir lange hierbleiben«, sagte er, »dann wirst du wahnsinnig werden, Tenar. Der Zorn der Namenlosen bedrückt dich und mich auch. Seit du hier bist, ist es besser geworden, viel besser. Aber es hat so lange gedauert, bis du

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