Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
wird, dann bleibt selbst die Bahn der Sterne davon nicht unberührt und wo er hinfällt, ändert sich die Umgebung. Jede Handlung beeinflußt das Gleichgewicht der Dinge. Die Winde und die Meere, das Wasser, die Erde und das Licht, all die Mächte und alles, was Tiere und Pflanzen tun, ist richtig und gut. Sie alle handeln, ohne das Gleichgewicht zu stören. Ein Orkan, das Blasen eines Riesenwals, der Fall eines dürren Blattes, der Flug einer Mücke, all dies ist Teil eines Ganzen und trägt zum Gleichgewicht bei. Wir aber, wir haben begrenzte Macht über die Natur und über uns selbst, und wir müssen lernen, was Blatt, Fisch und Wind unwillkürlich richtig tun. Wir müssen lernen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Da uns Verstand gegeben wurde, dürfen wir nicht handeln, als ob wir keinen hätten. Da uns eine Wahl gegeben ist, dürfen wir nicht unverantwortlich handeln. Wer bin ich, daß ich – obwohl ich die Macht dazu hätte – bestrafen und belohnen kann und mit dem Geschick der Menschen spielen, wie es mir gutdünkt?«
»Aber«, sagte der Junge und sah nachdenklich hinauf zu den Sternen, »bleibt denn das Gleichgewicht erhalten, wenn man nichts tut? Bedeutet das, daß ein Mensch nur dann handeln soll, wenn er alle Folgen kennt, die seine Handlung nach sich ziehen kann? Würde denn dann überhaupt noch gehandelt werden?«
»Hab keine Angst. Es fällt dem Menschen viel leichter zu handeln, als vom Handeln abzusehen. So lange wir leben, so lange werden wir Gutes oder Böses tun … Aber wenn wir wieder einen König hätten, der über uns alle herrschte, und wenn er, wie es früher üblich war, bei einem Magier Rat suchen würde, und wenn ich dieser Magier wäre, dann würde ich zu ihm sagen: Mein Fürst, handeln Sie nicht, nur weil es Ihnen edel oder lobenswert oder rechtmäßig vorkommt, handeln Sie nicht, nur weil es Sie gutdünkt. Handeln Sie nur dann, wenn Sie es nicht vermeiden können, wenn Sie nicht umhin können, zu handeln.«
In seiner Stimme lag wieder der Ton, der Arren aufhorchen ließ, und er blickte ihn an. Er glaubte wieder das Licht wahrzunehmen, das von seinem Gesicht ausging, das die gekrümmte Nase, die vernarbte Wange, die dunklen, tiefen Augen erhellte. Und er blickte ihn an, voller Liebe, aber auch voll Furcht, und er dachte: »Er ist mir so weit überlegen.« Doch als er ihn weiterhin anblickte, merkte er, daß es kein magisches Licht war, keine kalte, zaubrische Helle, sondern das Licht selbst, das gewöhnliche Licht des Tages. Es gab eine Macht, die größer war als die Macht des Magiers. Und die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, Arren sah Linien in seinem Gesicht, die das Alter gefurcht hatte, und er sah müde aus im immer heller werdenden Licht des Morgens. Er gähnte …
Gedankenverloren ließ er den Blick auf ihm ruhen und schlief endlich ein. Doch Sperber blieb an seiner Seite sitzen und wartete auf die Morgendämmerung und den Sonnenaufgang. Er saß und glich einem Menschen, der einen Schatz prüft, an dem nicht mehr alles vollkommen ist, ein Juwel mit einem Makel, ein krankes Kind.
Träume auf dem Meer
SPÄTER AM MORGEN nahm Sperber den magischen Wind aus dem Segel und überließ sein Boot dem Wind der Welt, der sanft aus Süden und Westen blies. Rechts vom Boot, in weiter Ferne, sah man noch die blauen Hügel von Südwathort, die immer kleiner wurden und schließlich nicht viel höher reichten als der Gischt über den Wellen des Meeres und bald verschwanden.
Arren erwachte. Das Meer schimmerte golden in der Hitze des Mittags, endloses Wasser unter einem endlosen Himmel. Sperber saß im Heck des Schiffes. Er hatte nur ein Tuch um seine Lenden geschlungen und eine Art Turban aus Segeltuch um seinen Kopf, sonst war er nackt. Er sang leise vor sich hin und schlug mit der Hand einen leisen, gleichförmigen Rhythmus auf die Ruderbank, als ob sie eine Trommel wäre. Was er sang, war weder Zaubergesang noch Heldenlied, sondern eine einfache Melodie mit Worten ohne Bedeutung, wie sie wohl ein Hirtenjunge vor sich hinsingen mag, der während der langen, heißen Sommernachmittage in den Bergen von Gont auf seine Ziegen aufpassen muß.
Die Oberfläche des Wassers teilte sich. Ein Fisch sprang hoch und schnellte sich mit ausgebreiteten Flügeln, die im Sonnenlicht wie Libellenflügel schillerten, einige Meter weit durch die Luft.
»Jetzt sind wir im Südbereich«, sagte Sperber, als er mit seinem Lied fertig war. »Es ist ein merkwürdiger Bereich. Hier gibt
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