Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
darstellten. In Arrens Augen stellte das Sternbild keinen Menschen dar, höchstens, wenn er sie mit schiefgelegtem Kopf anschaute; doch die Rune Agnen war klar erkennbar: ein gekrümmter Arm und ein Querstrich, nur der Fuß fehlte, der letzte Strich, der dem Stern, der noch nicht erschienen war, überlassen blieb.
Arren wartete darauf und schlief darüber ein.
Als er in der Morgendämmerung aufwachte, stellte er fest, daß sich die Weitblick weiter von Obehol entfernt hatte. Ein Nebel, der die Küste verdeckte und nur die Berggipfel herausragen ließ, löste sich langsam auf und lag als Dunstschleier auf dem violetten Wasser, während die letzten Sterne verblaßten.
Er blickte auf seinen Gefährten. Sperber atmete unregelmäßig. Es war offensichtlich, daß er Schmerzen litt, die ihn zwar im Schlaf quälten, aber doch nicht ganz wachhielten. Sein Gesicht war zerfurcht und sah in dem kalten, schattenlosen Licht des Morgens alt aus. Arren blickte ihn an, und er sah einen Mann vor sich, dem keine Macht verblieben war, keine Zauberkunst, keine Kraft, selbst keine Jugend mehr, nichts. Er hatte weder Sopli retten, noch den Speer von sich selbst abwenden können. Er hatte sie in die Gefahr geführt und sie nicht davor schützen können. Sopli war tot, er selbst lag im Sterben, und Arren würde ihm bald folgen. Und alles war die Schuld dieses Mannes; alles war umsonst, alles war vergeblich.
Und Arren blickte ihn an, nüchtern, ohne Hoffnung und nahm nichts wahr.
Keine Erinnerung regte sich in ihm; er sah keinen Brunnen mehr unter einer Eberesche in der Sonne plätschern, er hatte vergessen, daß einst ein weißer Glanz den Nebel auf einem Sklavenschiff durchbrach, er wußte nichts mehr vom trostlosen Baumgarten um das Haus des Färbers. Kein Stolz, kein Lebenswille regte sich in ihm. Er sah, wie die Dämmerung sich über der ruhigen See ausbreitete, er sah, wie die großen flachen Wellen, gefärbt wie ein bleicher Amethyst, sie umfluteten; alles war wie in einem Traum, leichenfarben, ohne Schärfe, ohne die Härte der Wirklichkeit. Und ganz zuunterst, am Ende der Träume und der See, befand sich ein Nichts – eine Leere, eine Gruft. Es gab keine Tiefe.
Das Boot bewegte sich stoßweise, es gehorchte den unbeständigen Strömungen des Windes. Hinter ihm schrumpften die Gipfel von Obehol zusammen. Schwarz gegen die aufgehende Sonne, aus deren Richtung ein Wind blies und sie vom Land, von der Welt wegtrieb, hinaus auf die hohe See.
Die Kinder der Hohen See
GEGEN MITTAG REGTE SICH SPERBER und bat um Wasser. Als er getrunken hatte, fragte er: »In welche Richtung segeln wir?«, denn das Segel über ihm war prall, und das Boot flitzte wie eine Schwalbe über die flachen Wellen.
»Westlich oder nordwestlich.«
»Mir ist kalt«, sagte Sperber. Die Sonne brannte vom Himmel, und im Boot war es heiß.
Arren erwiderte nichts.
»Versuch, westlichen Kurs zu halten. Wellogy, westlich von Obehol. Land. Wir brauchen Wasser.«
Der Junge starrte nach vorne über die endlose See.
»Was ist los, Arren?«
Arren erwiderte nichts.
Sperber versuchte, sich aufzusetzen, und als ihm das nicht gelang, griff er nach seinem Stab, doch der lag außer Reichweite. Als er sprechen wollte, kam kein Wort über seine trockenen Lippen. Das Blut sickerte von neuem durch den durchtränkten, verkrusteten Verband, und ein dunkelrotes Rinnsal, Spinnweben gleich, floß über seinen dunklen Oberkörper. Er zog scharf die Luft ein und schloß die Augen.
Arren musterte ihn ohne Anteilnahme und blickte bald wieder weg. Er ging nach vorne und kauerte sich wieder im Bug des Bootes zusammen, sein Blick war starr nach vorne gerichtet. Sein Mund war ganz trokken. Der Ostwind, der jetzt unablässig über das offene Meer blies, war so trocken wie der Wind der Wüste. Im Faß war nur noch ungefähr ein Liter Wasser übrig. Das war für Sperber, es wäre ihm nie eingefallen, davon zu trinken. Er hatte Angelschnüre ausgeworfen, denn seit sie Lorbanery verlassen hatten, hatte er gelernt, daß roher Fisch sowohl den Hunger als auch den Durst stillen konnte. Aber er fing nichts. Es spielte keine Rolle mehr. Das Boot glitt über die Wasserwüste. Über ihnen bewegte sich die Sonne, in der gleichen Richtung wie sie, doch viel langsamer, aber letzten Endes ging sie doch als Siegerin aus dem Rennen hervor, die ganze Breite des Himmels hatte sie ihnen voraus.
Einmal kam es Arren vor, als sähe er eine kleine Erhöhung im Süden, es konnte Land oder auch nur eine große
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