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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Vorhin sang er von Segoy, wie er die Inseln aus dem Meer emporsteigen ließ, diese Kunde ist ihnen aus unserer Sagenwelt verblieben. Aber alles andere handelt von der weiten See.«
    Arren hörte dem Gesang aufmerksam zu und glaubte den schrillen Schrei des Delphins zu vernehmen, den der Sänger nachahmte und um den er sein Lied wob. Er sah Sperbers Profil gegen das Fackellicht, schwarz, wie aus Fels gemeißelt, er sah die Augen der Häuptlingsfrauen im Feuerschein glitzern und hörte, wie sie leise miteinander redeten, er fühlte, wie das Floß sich auf dem ruhigen Wasser senkte und hob, und unmerklich überkam ihn der Schlaf.
    Er wachte ganz plötzlich auf: der Sänger war verstummt. Nicht nur der Sänger auf ihrem Floß, auch die anderen auf den nahen und fernen Flößen verstummten. Wie das Gezwitscher davonfliegender Vögel, dünn und hoch, verloren sich ihre Stimmen und starben langsam ab, eine nach der anderen.
    Arren blickte über die Schulter. Der volle Mond hing tief im Westen zwischen den Sternen des sommerlichen Himmels.
    Dann ließ er seinen Blick nach Süden schweifen, und hoch am Firmament sah er den gelblichen Gorbadon stehen und seine acht Gefährten darunter, selbst der letzte war jetzt aufgegangen: Die Rune des Endens brannte hell und klar über der dunklen See. Er wandte sich Sperber zu und bemerkte, daß sein dunkles Gesicht ebenfalls den Sternen zugekehrt war.
    »Warum verstummst du?« fragte der Häuptling den Sänger. »Der Tag ist noch nicht angebrochen, selbst die Morgenröte ist noch fern.«
    Der Mann stammelte: »Ich weiß nicht.«
    »Sing weiter! Der Langtanz ist noch nicht zu Ende.«
    »Ich habe die Worte vergessen«, sagte der Sänger, und seine Stimme klang schrill und angsterfüllt. »Ich kann nicht mehr singen. Ich habe das Lied vergessen.«
    »Dann sing ein anderes!«
    »Es gibt keine Lieder mehr. Alles ist zu Ende«, schluchzte der Sänger und beugte sich nach vorne, bis seine Stirn die Balken berührte. Der Häuptling starrte ihn sprachlos an.
    Die Flöße schaukelten unter dem flackernden Licht der Fackeln. Meeresstille umgab das bißchen menschliche Leben, das sich hinaus auf die Weite des Ozeans gewagt hatte, und verschluckte es. Kein Tänzer rührte sich mehr.
    Arren glaubte wahrzunehmen, wie die Pracht der Sterne sich trübte, und doch war im Osten noch kein Morgenrot erkennbar. Entsetzen packte ihn, als er dachte: »Es gibt keinen Sonnenaufgang mehr, das Tageslicht ist auf ewig verschwunden.«
    Der Magier erhob sich. Als er aufstand, eilte ein schwaches, weißes Licht seinen Stab hinauf und brannte am hellsten dort, wo die silberne Rune in den Stab eingelassen war. »Der Tanz ist noch nicht zu Ende«, sagte er, »und die Nacht ist noch nicht zu Ende. Arren, sing!«
    Arren war nicht nach Singen zumute. Am liebsten hätte er behauptet, auch nicht mehr singen zu können, doch das wagte er nicht. Er atmete tief ein und blickte auf die neun Sterne im Süden. Dann begann er zu singen. Seine Stimme war zuerst leise und belegt, doch nach und nach wurde sie lauter und klarer. Er sang das älteste aller Lieder, das Lied von der Erschaffung von Éa, das vom Gleichgewicht zwischen der Dunkelheit und der Helle handelt, und von ihm, der die grünen Lande geschaffen hat, dem Größten und Mächtigsten, von Segoy.
    Noch bevor er das Lied zu Ende gesungen hatte, war die Nacht verschwunden und hatte einem blaugrauen Himmel Platz gemacht, in dem nur noch der untergehende Mond und Gobardon schwachschimmernd schwammen. Die Fackeln zischten im kühlen Wind des frühen Morgens. Als das Lied zu Ende gesungen war, schwieg Arren, und die Tänzer, die sich um ihn versammelt und schweigend zugehört hatten, kehrten auf ihre Flöße zurück, während das Licht im Osten immer heller wurde.
    »Das ist ein gutes Lied«, lobte ihn der Häuptling. Seine Stimme klang unsicher, obwohl er sich bemühte, kühl und überlegen zu erscheinen. »Es wäre ein schlechtes Zeichen gewesen, wenn wir den Langtanz abgebrochen hätten, bevor die Nacht zu Ende ging. Ich werde die faulen Sänger mit Nigluseilen auspeitschen lassen.«
    »Tröste sie lieber«, sagte Sperber. Er stand noch immer, und seine Stimme war hart. »Kein Sänger verstummt aus freiem Willen. Komm mit mir, Arren!«
    Er wandte sich seiner Hütte zu, und Arren folgte ihm. Doch der ungewöhnliche Tagesanbruch war noch nicht vorbei. Während sich der östliche Rand des Meeres weiter erhellte, sah man von Norden her hoch am Himmel etwas wie einen Vogel näher

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