Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
helfen. So lange Sie bei uns bleiben wollen, sind Sie willkommen. Es ist nicht mehr lange bis zum Langtanz, und dann werden wir uns nach Norden wenden, und gegen Ende des Sommers erreichen wir die Lange Düne. Wenn Sie hierbleiben und Ihre Wunde ausheilen wollen, so ist uns das recht. Doch wenn Sie Ihr Boot nehmen und davonsegeln wollen, so ist uns das auch recht.«
Der Magier dankte ihm, und der Häuptling, hager wie ein Reiher, erhob sich steif und ließ sie allein.
»Unschuld ist kein Bollwerk gegen das Böse«, sagte Sperber und lächelte wehmütig. »Aber Unschuld birgt die Möglichkeit, Gutes zu tun. – Ich denke, wir werden noch eine Weile hierbleiben, bis ich mich von dieser Schwäche erholt habe.«
»Das ist ein weiser Entschluß«, sagte Arren. Sperbers körperliche Schwäche hatte ihn erschreckt, und er war tief beunruhigt. Er war entschlossen, den Mann vor seiner eigenen Willenskraft und Ruhelosigkeit zu schützen und darauf zu bestehen, daß sie mit der Weiterfahrt warteten, bis er zumindest frei von Schmerzen war.
Der Magier blickte ihn an, überrascht über das Kompliment.
»Die Leute hier sind freundlich«, fuhr Arren fort, ohne Sperbers Blick wahrzunehmen. »Sie scheinen nichts von dieser seelischen Krankheit an sich zu haben, die auf Hort und auf den anderen Inseln um sich greift. Vielleicht hätte es gar keine Insel gegeben, auf der man uns geholfen und uns willkommen geheißen hätten, so wie es diese vergessenen Leute hier getan haben.«
»Du hast wahrscheinlich recht.«
»Und ihr Leben im Sommer ist wirklich schön …«
»Stimmt. Obgleich, das ganze Leben lang nur kalte Fischsuppe zu essen, nie einen Birnbaum blühen zu sehen, nie aus einem klaren Quell trinken zu können, wäre auf die Dauer für mich schwer zu ertragen!«
So kam es, daß Arren auf Sterns Floß zurückkehrte und tagsüber mit den anderen jungen Leuten schwamm, arbeitete und in der Sonne lag. In der Abendkühle ging er zu Sperber und unterhielt sich mit ihm, und des Nachts schlief er unter den Sternen. So reihten sich die Tage aneinander, und die Mittsommernacht und der Langtanz rückten immer näher, während die großen Flöße auf den mächtigen Strömungen des offenen Meeres nach Süden trieben.
Orm Embar
WÄHREND DER GANZEN NACHT, der kürzesten des Jahres, brannten Fackeln auf den Flößen, die zu einem Riesenkreis unter dem mit Sternen dichtbesäten Himmel aufgereiht waren. Es sah aus, als läge ein flakkernder, feuriger Ring auf dem Wasser. Das Floßvolk tanzte, ohne Trommeln, ohne Flöten, ohne irgendwelche Begleitmusik, nur zum Rhythmus, den ihre nackten Füße auf die großen, schaukelnden Flöße trommelten, begleitet von ihren Sängern, deren hohe, klagende Stimmen über der Weite des Meeres verklangen. Kein Mond erhellte die Nacht, und die Gestalten der Tanzenden waren nur schwach im Licht der Sterne und Fackeln sichtbar. Ab und zu brach, blitzartig, ein Tänzer aus der Reihe und schnellte sich wie ein fliegender Fisch in die Luft zum nächsten Floß hinüber: hoch und weit sprangen sie, überboten sich gegenseitig und versuchten, alle Flöße zu berühren, auf allen ein wenig zu tanzen und bei Tagesanbruch den ganzen Ring durchtanzt zu haben und wieder auf dem eigenen Floß gelandet zu sein.
Arren tanzte auch, denn der Langtanz gehört zum Brauch auf jeder Insel des Inselreichs, nur Gesang und Rhythmus sind verschieden. Die Nachtstunden verstrichen, und viele Tänzer ließen sich ermüdet nieder, um weiter zuzuschauen, manche nickten ein. Die Stimmen der Sänger klangen heiser vom unaufhörlichen Singen. Arren erreichte mit einer Gruppe hochspringender Jungen das Floß des Häuptlings und beschloß, hier anzuhalten, während die anderen weitertanzten und -sprangen.
Sperber saß nahe dem Tempel beim Häuptling und seinen drei Frauen. Zwischen den geschnitzten Walfischen, den Türpfosten des Tempels, saß ein Sänger, dessen Stimme mit unverminderter Klarheit und Stärke die ganze Nacht hindurch erklungen war. Keine Müdigkeit war an ihm wahrzunehmen, er sang ohne abzusetzen und schlug den Takt mit der flachen Hand auf die Holzbalken des Floßes.
»Wovon singt er?« fragte Arren, denn er konnte den Worten, die alle in die Länge gezogen wurden und am Ende in einem ihm unbekannten Triller endeten, nicht folgen.
»Er singt von den großen Walfischen und vom Albatros und von den Stürmen des Meeres … Hier kennt man unsere Helden- und Königslieder nicht. Von Erreth-Akbe haben sie noch nie gehört.
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