Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
herausfloß – eine Wunde, wie Sie sie hatten. Nur war sie überall. Und ich habe nichts, gar nichts getan, nur versucht, mich vor dem Grauen des Sterbens zu verbergen.«
Er hielt inne, denn es war fast unerträglich, laut die Wahrheit auszusprechen. Nicht Scham hielt ihn davor zurück, sondern Furcht, die gleiche Furcht. Jetzt wußte er, warum ihm dieses friedliche Leben auf den Flößen wie ein Traum, wie ein Leben nach dem Tode vorkam. Denn er wußte tief in seinem Herzen, daß es nichts Wirkliches gab, daß die Wirklichkeit ohne Leben, ohne Wärme, ohne Farbe und Ton war … Es gab keine Höhen, keine Tiefen. Das Spiel von Licht und Schatten, die Farben, die auf dem Meer lagen und in den Augen der Menschen zu sehen waren, sie waren weiter nichts als das: Illusionen – und dahinter gähnte ein Nichts.
Sie vergingen und nichts blieb zurück, nur Kälte und eine Welt ohne feste Formen. Sonst nichts.
Sperber schaute ihn an, doch Arrens Augen waren auf den Boden geheftet, er wich diesem Blick aus. Aber ganz unerwartet spürte er, wie sich tief in seinem Herzen etwas regte. Eine kleine Stimme, mutig und spöttisch; sie war überheblich und erbarmungslos und sprach: »Du Feigling! Du Feigling! Willst du sogar das aufgeben?«
Da hob er den Blick, mit großer Willensanstrengung, und blickte in die Augen seines Gefährten.
Sperber ergriff seine Hand und hielt sie fest, so daß sie sich körperlich und mit ihren Augen berührten. Er sagte Arrens wahren Namen, den er noch nie zuvor ausgesprochen hatte: »Lebannen!« Und noch einmal: »Lebannen, es ist, und du bist! Es gibt keine Sicherheit und kein Ende. Nur im Schweigen hört man das Wort, nur in der Dunkelheit sieht man die Sterne. Der Tanz wird getanzt, aber darunter ist es hohl, darunter liegt ein Abgrund.«
Arren beugte den Kopf so tief, daß seine Stirn sich gegen Sperbers Hand preßte. »Ich habe Sie im Stich gelassen!« stöhnte er. »Ich werde wieder versagen, mir selbst gegenüber werde ich versagen. Ich bin nicht stark genug!«
»Du bist stark genug.« Die Stimme des Magiers war weich, doch unter der Weichheit war die gleiche Härte, die aus Arrens tiefstem Herzen, aus seiner Scham, aufgestiegen war und über ihn gespottet hatte. »Was du liebst, Arren, wirst du immer lieben. Was du unternimmst, wirst du vollenden. Du bist die Erfüllung der Hoffnung, auf dir ruht sie. Doch mit siebzehn Jahren ist man noch wenig geschützt vor der Verzweiflung. – Bedenke, Arren, wer den Tod verneint, der verneint das Leben!«
»Aber ich suchte den Tod – Ihren und meinen!« Arren hob den Kopf und starrte Sperber an. »Ich suchte ihn, wie Sopli, der ertrinken wollte …«
»Sopli hat den Tod nicht gesucht. Er wollte dem Tod und dem Leben entrinnen. Er suchte die Sicherheit: er versuchte der Furcht – der Furcht vor dem Tode zu entrinnen.«
»Aber es gibt … es gibt eine Möglichkeit. Jenseits des Todes ist ein Weg. Er führt zurück zum Leben. Zum Leben jenseits des Todes, zu einem Leben ohne Tod. Das – das suchen sie; Hase und Sopli, die Zauberer gewesen waren. Das suchen wir. Sie – Sie vor allem – müssen das wissen – müssen diesen Weg kennen.«
Der Magier hielt Arrens Hand noch fest umschlossen. »Ich weiß nichts davon«, sagte Sperber. »Gewiß, ich weiß, was sie glauben zu suchen. Aber ich weiß, daß es eine Lüge ist. Arren, hör mir gut zu! Du wirst sterben. Du wirst nicht ewig weiterleben. Kein Mensch, kein Wesen lebt ewig weiter. Auf dieser Erde gibt es kein ewiges Leben. Doch nur uns wurde offenbart, daß wir sterben müssen. Und das ist ein großes Geschenk: dadurch werden wir unserer selbst bewußt, denn wir wissen, daß wir das, was uns gegeben wurde, wieder hergeben, willig hergeben müssen. Und unser Selbst ist unser Himmel und unsere Hölle, es ist unser Menschsein. Es verändert sich, es verschwindet, wie eine Welle auf dem Meer verschwindet. Möchtest du, daß die Wellen und die Gezeiten zum Stillstand kommen, damit eine Welle, du, gerettet wird? Möchtest du die Geschicklichkeit deiner Hände, die Tiefe deiner Gefühle, das Licht des Sonnenauf- und -untergangs aufgeben, um eine Sicherheit – eine ewige Sicherheit – zu erlangen? Das, und nichts anderes, versuchen sie auf Wathort und Lorbanery und an all den anderen Orten. Und das ist die Botschaft, die all jene, die dazu in der Lage waren, hörten. Sie lautet: Wenn du das Leben verneinst, dann kannst du auch den Tod verneinen und ewig weiterleben! – Und diese Botschaft,
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