Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
versöhnlicher: »Wir sind nur Boten. Was zwischen dem König und dem Obersten Magier vorgeht, betrifft nur sie beide. Wir sind nur bestrebt, die Botschaft und die Antwort zu überbringen.«
»Wenn es mir möglich ist, werde ich dafür sorgen, daß Eure Botschaft ihn erreicht.«
»Und die Antwort?« fragte der älteste Mann.
Sie schwieg, und der erste Sprecher sagte: »Wir werden einige Tage im Haus des Herrn von Re Albi verbringen, der uns seine Gastfreundschaft anbot, als er vom Eintreffen unseres Schiffs erfuhr.«
Sie hatte das Gefühl, daß eine Falle aufgestellt oder eine Schlinge zugezogen wurde, obwohl sie nicht wußte, warum. Sperbers Verletzlichkeit, sein Gefühl der Schwäche hatten sie angesteckt. Beunruhigt setzte sie ihr Aussehen zur Verteidigung ein: den Anschein, daß sie nur eine Haushälterin, eine Hausfrau mittleren Alters war – hatte es nur den Anschein? Es entsprach der Wahrheit, und solche Angelegenheiten waren noch heikler als die Verkleidungen und das Gestaltwechseln der Zauberer. Sie beugte den Kopf und erwiderte: »Das ist schicklicher und angenehmer für Eure Lordschaften. Ihr seht, daß wir hier einfach leben, wie es der alte Magier tat.«
»Mit Andrades-Wein«, bemerkte derjenige, der den Jahrgang erkannt hatte, ein gutaussehender Mann mit hellen Augen und einem gewinnenden Lächeln. Sie behielt ihre Rolle bei und hielt den Kopf gesenkt. Aber als sie sich verabschiedeten und nacheinander hinausgingen, wußte sie, daß unabhängig davon, wie sie sich gab und wie sie aussah, die fünf sehr bald erfahren würden, daß sie Tenar vom Ring war, oder es jetzt schon wußten. Damit würden sie auch wissen, daß sie den Obersten Magier kannte und daß für die Herren der Weg zu ihm über sie führte, falls sie entschlossen waren, ihn aufzustöbern.
Als sie fort waren, seufzte sie tief auf. Genau wie Heide, die endlich den Mund schloß, der während des Besuchs der Fremden die ganze Zeit über offengestanden hatte. »Nein so was«, bemerkte sie voll tiefer, vollkommener Befriedigung und ging hinaus, um nachzusehen, wohin die Ziegen gelaufen waren.
Therru kam aus dem dunklen Winkel hinter der Tür hervor, in dem sie sich mit Ogions Stab, Tenars Erlenstock und ihrem Haselnußstecken verbarrikadiert hatte. Sie bewegte sich in der verkrampften, verstohlenen Art, die sie beinahe abgelegt hatte, seit sie hier lebten, blickte nicht auf und neigte die zerstörte Hälfte des Gesichts zur Schulter.
Tenar trat zu ihr, kniete nieder und schloß sie in die Arme. »Sie werden dir nichts tun, Therru. Sie haben nichts Böses im Sinn.«
Das Kind sah sie nicht an. Sie war in Tenars Armen steif wie ein Holzklotz.
»Wenn du es willst, lasse ich sie nicht mehr ins Haus.«
Nach einer Weile bewegte sich das Kind ein wenig und fragte mit seiner undeutlichen heiseren Stimme: »Was werden sie Sperber antun?«
»Nichts. Nichts Böses! Sie sind gekommen – sie wollen ihn ehren.«
Aber sie erkannte allmählich, was ihr Versuch, ihn zu ehren, ihm antun würde – sie würden seinen Verlust nicht anerkennen, sie würden seine Trauer um den Verlust nicht anerkennen, würden ihn zwingen, etwas vorzutäuschen, das er nicht mehr war.
Als Tenar das Kind losließ, ging Therru zum Schrank und nahm Ogions Besen heraus. Sie fegte dort, wo die Männer aus Havnor gestanden hatten, mühsam den Boden, fegte ihre Fußabdrücke weg, fegte den Staub ihrer Füße zur Tür hinaus, von der Schwelle.
Tenar, die ihr zusah, faßte einen Entschluß.
Sie trat zu dem Regal, in dem Ogions drei große Bücher standen, und suchte dort. Sie fand mehrere Gänsekiele und eine halb ausgetrocknete Tintenflasche, aber kein Stückchen Papier oder Pergament. Sie biß die Zähne zusammen, weil sie es haßte, etwas so Heiligem wie einem Buch Schaden zuzufügen, falzte an der letzten leeren Seite des Buchs der Runen einen schmalen Streifen und riß ihn ab. Sie setzte sich an den Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb. Weder die Tinte noch die Worte flossen leicht. Seit sie vor einem Vierteljahrhundert an diesem Tisch gesessen hatte, während Ogion ihr über die Schulter blickte und ihr die Runen des Hardischen und die Großen Runen der Macht beibrachte, hatte sie kaum etwas geschrieben. Jetzt schrieb sie:
gehe eichenhof im mittltal zu reinwasser
sage goha schickte um garten & schafe zu hüten
Zum Lesen der Botschaft brauchte sie beinahe genauso lange wie zum Schreiben. Therru war inzwischen mit dem Fegen fertig und beobachtete Tenar
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