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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Aber der Rest – das Wissen, die Runen der Macht, die Zaubersprüche, die Regeln, das Beschwören der Kräfte –, das alles war für mich tot. Die Sprache eines anderen. Ich hätte hergerichtet sein können wie ein Krieger, dachte ich oft, mit Lanze, Schwert, Helmbusch und allem, aber es hätte nicht zu mir gepaßt. Was sollte ich mit dem Schwert anfangen? Hätte es mich zum Helden gemacht? Ich wäre ich selbst gewesen, aber in einer Verkleidung, die nicht zu mir paßte, das ist alles; ich wäre kaum imstande gewesen zu gehen.«
    Sie trank ihren Wein.
    »Deshalb habe ich alles abgelegt und meine eigene Kleidung angezogen.«
    »Was sagte Ogion, als du ihn verließest?«
    »Was sagte Ogion für gewöhnlich?«
    Das weckte wieder das schattenhafte Lächeln. Er antwortete nicht.
    Sie nickte.
    Nach einer Weile fuhr sie sanfter fort: »Er nahm mich auf, weil du mich zu ihm brachtest. Er wollte nach dir keinen Lehrling mehr und hätte nie ein Mädchen aufgenommen, wenn du ihn nicht darum gebeten hättest. Aber er liebte mich. Er behandelte mich mit Ehrerbietung. Und ich liebte und ehrte ihn. Doch er konnte mir nicht geben, was ich wollte, und ich konnte nicht annehmen, was er mir geben konnte. Das wußte er. Als er Therru sah, war es etwas anderes, Ged. Am Tag, bevor er starb. Du behauptest – und die Hexe behauptet es ebenfalls –, daß Macht Macht erkennt. Ich weiß nicht, was er in ihr sah, aber er sagte: ›Lehre sie!‹ Und er sagte …«
    Ged wartete.
    »Er sagte: ›Sie werden sie fürchten.‹ Und dann sagte er: ›Lehre sie alles. Nicht Rok.‹ Ich weiß nicht, was er damit meinte. Wenn ich bei ihm geblieben wäre, wüßte ich es vielleicht, wäre vielleicht imstande, sie auszubilden. Aber ich dachte, Ged wird kommen, er wird es wissen. Er wird wissen, was er ihr beibringen soll, was sie wissen muß, mein Mädchen, dem Unrecht geschah.«
    »Ich weiß es nicht.« Er sprach sehr leise. »Ich sah … In dem Kind sehe ich nur – das Unrecht, das zugefügt wurde. Das Böse.«
    Er trank von seinem Wein.
    »Ich habe nichts, was ich ihr geben könnte«, stellte er fest.
    Von der Tür kam ein kratzendes leises Geräusch. Er sprang sofort wieder mit hilfloser Bewegung auf und suchte nach einem Versteck.
    Tenar ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und roch Tantchen Moor, bevor sie sie sah.
    »Männer im Dorf«, flüsterte die alte Frau dramatisch. »Alle möglichen feinen Leute sind von Gonthafen heraufgekommen, von dem großen Schiff aus Havnor. Sie wollen den Obersten Magier holen, heißt es!«
    »Er will sie nicht empfangen«, antwortete Tenar schwach. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.
    »Das kann ich mir denken«, meinte die Hexe. Und fügte nach einer erwartungsvollen Pause hinzu: »Wo steckt er denn?«
    »Hier«, antwortete Sperber, trat zur Tür und öffnete sie weiter. Die Hexe musterte ihn schweigend.
    »Wissen sie, wo ich mich befinde?«
    »Nicht von mir«, antwortete die Alte.
    »Wenn sie herkommen«, meinte Tenar, »mußt du sie nur fortschicken – schließlich bist du der Oberste Magier …«
    Weder er noch die alte Moor beachteten sie.
    »Zu meinem Haus werden sie nicht kommen«, erklärte Tantchen Moor. »Komm mit, wenn du magst.«
    Er warf Tenar einen Blick zu und folgte Tantchen Moor, sprach aber kein Wort.
    »Was soll ich ihnen sagen?« fragte Tenar.
    »Nichts, Schätzchen«, antwortete die Hexe.
    Heide und Therru kamen mit sieben toten Fröschen in einer Netztasche aus dem Sumpf zurück, und Tenar machte sich daran, die Beine für das späte Abendessen der Jäger abzuschneiden und die Haut abzuziehen. Sie war gerade damit fertig, als sie draußen Stimmen vernahm; als sie zur offenen Tür blickte, sah sie Menschen – Männer mit Hüten, Gold funkelte, etwas glitzerte … »Mistress Goha?« fragte eine höfliche Stimme.
    »Kommt herein!« forderte sie sie auf.
    Sie kamen herein: fünf Männer, die im niedrigen Raum doppelt so viele zu sein schienen, hochgewachsen und vornehm. Sie blickten sich um und sahen, was sie sahen.
    Sie sahen eine Frau, die mit einem langen scharfen Messer in der Hand an einem Tisch stand. Auf dem Tisch lag ein Hackbrett; an einem Ende befand sich ein kleines Häufchen nackter grünlichweißer Beine; auf der anderen Seite ein Haufen fetter, blutiger, toter Frösche. Im Schatten hinter der Tür versteckte sich etwas – ein Kind, aber ein verunstaltetes, entstelltes Kind mit halbem Gesicht und einer Klauenhand. Auf dem Bett in einer Nische saß unterhalb des

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