Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
aber sie hörte den Vorwurf oder die Beschwerde heraus, und bei ihm erschütterte es sie und machte sie zornig. Sie sagte steif: »Kalessin hat dich hergebracht.«
Weil die Tür geschlossen war und nur das kleine westliche Fenster das Licht des Spätnachmittags einließ, war es im Haus dunkel. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht ausmachen; aber dann hob er ihr mit einem schattenhaften Lächeln das Glas entgegen und trank.
»Dieser Wein«, sagte er. »Ein großer Kaufmann oder Pirat muß ihn Ogion gebracht haben. Ich habe nie etwas Gleichwertiges getrunken. Nicht einmal in Havnor.« Er drehte das plumpe Glas in den Händen und betrachtete es. »Ich werde mir irgendeinen Namen zulegen und über den Berg ins Östliche Waldland ziehen, woher ich gekommen bin. Sie werden beim Heuen sein. Beim Heuen und bei der Ernte findet man immer Arbeit.«
Sie wußte nicht, was sie ihm antworten sollte. Er war schmächtig und sah kränklich aus, und man gäbe ihm diese Arbeit nur aus Mitleid oder aus Roheit; und wenn er sie bekäme, wäre er nicht imstande, sie zu leisten.
»Die Straßen sind nicht mehr wie früher«, erklärte sie. »Seit einigen Jahren sind überall Diebe und Banden unterwegs. Ausländisches Gesindel, wie mein Freund Townsend sagt. Aber es ist nicht mehr ungefährlich, allein zu wandern.«
Sie sah ihn im dämmrigen Licht an, um zu beobachten, wie er die Worte aufnahm, und fragte sich für einen Augenblick erschrocken, wie es wohl war – wenn man nie vor einem menschlichen Wesen Angst gehabt hatte –, wie es wohl war, wenn man lernen mußte, Angst zu haben.
»Ogion ist immer …«, begann er und preßte die Lippen aufeinander; ihm war eingefallen, daß Ogion ein Magier gewesen war.
»Unten im Süden der Insel gibt es viele Herden«, meinte Tenar. »Schafe, Ziegen, Rinder. Man treibt sie vor dem Langen Tanz die Hügel hinauf und läßt sie dort weiden, bis der Regen kommt. Man braucht dort immer Hirten.« Sie trank einen Schluck Wein. Er fühlte sich in ihrem Mund wie der Name des Drachen an. »Warum kannst du nicht einfach hierbleiben?«
»Nicht in Ogions Haus. Es ist der erste Ort, wo sie suchen werden.«
»Und was ist, wenn sie kommen? Was wollen sie von dir?«
»Daß ich der bin, der ich war.«
Die Verzweiflung in seiner Stimme ließ sie erschauern.
Sie schwieg, versuchte sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, Macht zu besitzen, die Verzehrte zu sein, die Einzige Priesterin der Gräber von Atuan, und dann alles zu verlieren, wegzuwerfen, nur Tenar, nur sie selbst zu werden. Sie dachte daran, wie es war, eine Frau in der Blüte ihres Lebens zu sein, Kinder und einen Mann zu haben und dann alles zu verlieren, alt, verwitwet und machtlos zu sein. Aber trotzdem verstand sie seine Scham, die Qual seiner Demütigung nicht. Vielleicht konnte nur ein Mann so empfinden. Eine Frau gewöhnte sich daran, sich zu schämen.
Vielleicht hatte die alte Moor recht, und wenn das Fleisch weg war, war die Schale leer.
Hexengedanken, dachte sie, und um ihn und sich selbst auf andere Gedanken zu bringen und weil der milde, feurige Wein den Geist und die Zunge beflügelte, sagte sie: »Weißt du, ich habe daran gedacht, wie Ogion mich lehrte und ich nicht weitermachen wollte, sondern mir einen Bauern suchte und ihn heiratete – als ich das tat, dachte ich an meinem Hochzeitstag: Ged wird zornig sein, wenn er das erfährt.« Sie sagte es lachend.
»Ich war zornig«, gab er zu.
Sie wartete.
»Ich war enttäuscht«, fügte er hinzu.
»Zornig«, berichtigte sie.
»Zornig«, wiederholte er.
Er schenkte ihr Glas voll.
»Ich besaß damals die Macht, Macht zu erkennen«, erklärte er. »Und du – du leuchtetest an diesem entsetzlichen Ort, dem Labyrinth, in der Dunkelheit …«
»Dann verrate mir: Was hätte ich mit meiner Macht und dem Wissen, das Ogion mich lehren wollte, anfangen sollen?«
»Sie anwenden.«
»Wie?«
»So wie die Kunst der Magie angewendet wird.«
»Von wem?«
»Von Zauberern«, erwiderte er ein wenig schmerzlich.
»Bedeutet Magie die Fertigkeiten, die Künste von Zauberern, von Magiern?«
»Was sollte Magie sonst bedeuten?«
»Ist das alles, was es jemals bedeuten kann?«
Er überlegte und blickte ein- oder zweimal zu ihr auf. »Als Ogion mir hier – an diesem Herd – die Worte der Alten Sprache beibrachte«, fuhr sie fort, »waren sie in meinem Mund genauso leicht und schwer wie in seinem Mund. Es war, als lernte ich die Sprache, die ich vor meiner Geburt gesprochen hatte.
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