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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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fand nichts Verderbtes daran.
    Oben im Herrenhaus hatte man keine Spur von dem Mann Flinko gesehen. Tenar wollte sicher sein, daß er den Oberfell verlassen hatte, und fragte ein oder zwei Bekannte im Dorf, ob sie einen solchen Mann gesehen hatten, aber sie bekam – nur widerwillig – ausweichende Antworten. Man wollte nichts mit ihren Angelegenheiten zu tun haben. »Laß es bleiben …« Nur der alte Fan behandelte sie wie eine Freundin und Dorfbewohnerin. Vielleicht kam es daher, daß seine Augen schwach waren und er Therru nicht deutlich erkennen konnte.
    Sie nahm jetzt das Kind mit, wenn sie ins Dorf ging oder sich vom Haus entfernte.
    Therru empfand diesen Zwang nicht als langweilig. Sie blieb in Tenars Nähe, wie es ein viel jüngeres Kind getan hätte, arbeitete mit ihr oder spielte. Sie machte Fadenspiele, flocht Körbchen und spielte mit zwei Figuren aus Knochen, die Tenar in einem Säckchen aus Gras auf einem von Ogions Regalen gefunden hatte. Die eine stellte ein Tier dar, vielleicht einen Hund oder ein Schaf, und die andere eine Frau oder einen Mann. Bei Tenar lösten sie kein Gefühl der Macht oder der Gefahr aus, und auch Tantchen Moor meinte: »Nur Spielzeug.« Für Therru bedeuteten sie große Magie. Sie schob sie stundenlang gemäß der Handlung einer stummen Geschichte herum; wenn sie spielte, sprach sie nicht. Manchmal baute sie für den Menschen und das Tier Häuser: Steinhügel, Hütten aus Schlamm und Stroh. Die Figuren befanden sich immer im Grassäckchen in Therrus Tasche. Sie lernte spinnen; sie hielt den Rocken in der verbrannten Hand und drehte die Handspindel mit der anderen. Seit sie hier waren, hatten sie die Ziegen regelmäßig gekämmt und besaßen jetzt einen Sack voll seidiger Ziegenhaare, die gesponnen werden sollten.
    Aber ich sollte sie ausbilden, dachte Tenar verzweifelt. Lehre sie alles, hat Ogion gesagt, und was lehre ich sie? Kochen und Spinnen? Dann sagte ein anderer Teil ihres Verstands mit Gohas Stimme: Sind das denn keine echten, notwendigen, edlen Fertigkeiten? Besteht Weisheit nur aus Worten?
    Dennoch machte sie sich Sorgen, und als Therru eines Nachmittags die Ziegenhaare zupfte, um sie zu reinigen und zu lockern, und Tenar sie krempelte, begann sie: »Vielleicht ist es Zeit, Therru, daß du den wahren Namen der Dinge lernst. Es gibt eine Sprache, in der alle Dinge ihren wahren Namen tragen und Tat und Wort eins sind. Während Segoy in dieser Sprache redete, hob er die Inseln aus der Tiefe. Es ist die Sprache der Drachen.«
    Das Kind hörte ihr schweigend zu.
    Tenar legte die Krempelkämme beiseite und hob einen kleinen Stein auf. »In dieser Sprache«, erklärte sie, »heißt dies tolk .«
    Therru sah ihr zu und wiederholte das Wort tolk, aber stimmlos, bildete es nur mit den Lippen, die auf der rechten Seite durch die Narben ein wenig verzerrt waren.
    Der Stein lag auf Tenars Handfläche, ein Stein.
    Beide schwiegen.
    »Noch nicht«, sagte Tenar. »Das muß ich dir nicht jetzt beibringen.« Sie ließ den Stein zu Boden fallen und griff nach ihren Kämmen und einer Handvoll wolkiger grauer Wolle, die Therru zum Krempeln vorbereitet hatte. »Vielleicht ist die richtige Zeit dann, wenn du deinen wahren Namen hast. Nicht jetzt. Jetzt hör zu. Jetzt ist die Zeit für Geschichten, du mußt beginnen, die Geschichten zu lernen. Ich kann dir Geschichten vom Archipel und dem Kargadreich erzählen. Ich habe dir eine Geschichte erzählt, die ich von meinem Freund Aihal dem Schweigsamen erfuhr. Jetzt werde ich dir eine Geschichte erzählen, die ich von meiner Freundin Lerche hörte, als sie sie ihren und meinen Kindern erzählte. Es ist die Geschichte von Andaur und Avad. Vor so langer Zeit wie die Ewigkeit, so weit entfernt wie Selidor, lebte ein Mann namens Andaur, ein Holzfäller, der allein in die Berge zog. Eines Tages fällte er tief im Wald eine große Eiche. Als sie stürzte, rief sie ihm mit menschlicher Stimme zu …«
    Es war für beide ein angenehmer Nachmittag.
    Doch als Tenar in dieser Nacht bei dem schlafenden Kind lag, konnte sie nicht schlafen. Sie war ruhelos, sorgte sich um eine Kleinigkeit nach der anderen: Habe ich das Tor zur Weide verschlossen, schmerzt mir die Hand vom Krempeln, oder ist es beginnende Abnützung, und so weiter. Dann wurde sie sehr unruhig, weil sie glaubte, vor dem Haus Geräusche zu hören. Warum habe ich mir keinen Hund zugelegt? dachte sie. Dumm, keinen Hund zu haben. Heutzutage sollten eine Frau und ein Kind, die allein leben, einen

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