Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
gedacht zu haben.«
    »Ist er noch Oberster Magier?« fragte Tenar. Die Frage wirkte armselig ahnungslos, und als sie mit Schweigen aufgenommen wurde, befürchtete Tenar, daß sie mehr als ahnungslos gewesen war.
    »Es gibt zur Zeit keinen Obersten Magier von Rok«, erklärte der Magier schließlich. Sein Ton war äußerst vorsichtig und genau.
    Sie wagte nicht zu fragen, was er meinte.
    »Meiner Meinung nach«, sagte der König, »kann der Heiler der Rune des Friedens an jedem Rat dieses Reichs teilnehmen; findet Ihr nicht?«
    Nach einer weiteren Pause und offensichtlich etwas widerstrebend erwiderte der Magier: »Gewiß.«
    Der König wartete, aber der Magier sprach nicht weiter.
    Lebannen blickte auf das glitzernde Wasser hinaus und sprach, als erzähle er eine Geschichte: »Als er und ich aus dem fernsten Westen nach Rok kamen, vom Drachen getragen …« Er unterbrach sich, und der Name des Drachen sprach sich selbst in Tenars Geist, Kalessin , als hätte man einen Gong angeschlagen.
    »Der Drache ließ mich hier und trug ihn fort. Der Türhüter des Hauses von Rok sagte darauf: ›Er ist mit seinem Werk fertig. Er kehrt nach Hause zurück.‹ Und zuvor – am Strand von Selidor – ersuchte er mich, seinen Stab dort zu lassen, und erklärte, daß er kein Magier mehr sei. Daher beratschlagten die Meister von Rok, um einen neuen Obersten Magier zu wählen.
    Sie nahmen mich in den Rat auf, damit ich erfuhr, was ein König vom Rat der Weisen wissen sollte. Ich sollte auch einen aus ihrer Mitte ersetzen: Thorion den Boten, dessen Kunst durch das große Böse, das Sperber fand und dem er ein Ende bereitete, gegen ihn gewendet worden war. Als wir uns in dem trockenen Land befanden, zwischen der Mauer und den Bergen, sah ich Thorion. Sperber sprach mit ihm, wies ihm den Weg über die Mauer zurück ins Leben. Aber er schlug ihn nicht ein. Er kehrte nicht zurück.«
    Die starken schlanken Hände des jungen Mannes umklammerten die Reling. Während er sprach, blickte er unentwegt auf das Meer hinaus. Er schwieg für eine Weile, dann setzte er seine Geschichte fort.
    »Ich machte also die Zahl der Männer voll, neun, die zusammenkamen, um den neuen Obersten Magier zu wählen. Es sind … Es sind weise Männer«, sagte er und warf Tenar einen Blick zu. »Nicht nur in ihrer Kunst erfahrene, sondern kenntnisreiche Männer. Wie ich schon vorher gesehen hatte, benützen sie ihre Meinungsverschiedenheiten, um eine haltbare Entscheidung zu treffen. Aber dieses Mal …«
    »Tatsache ist«, griff Meister Windschlüssel ein, als er merkte, daß Lebannen die Meister von Rok nur ungern kritisieren wollte, »daß wir nur Streit hatten und zu keinem Entschluß gelangten. Wir konnten uns nicht einigen. Weil der Oberste Magier nicht tot war – am Leben war, versteht ihr, und doch kein Magier – und dennoch anscheinend noch immer ein Drachenherr war … Weil unser Gestaltwechsler noch immer darüber erschüttert war, daß sich seine Kunst gegen ihn gewendet hatte. Er nahm an, daß der Bote vom Tod zurückkehren werde, und bat uns, auf ihn zu warten … und weil der Meister Formgeber überhaupt nicht sprechen wollte. Er ist ein Karg, Mylady, so wie Ihr; wußtet Ihr das? Er kam aus Karego-At zu uns.« Seine scharfen Augen beobachteten sie: Woher weht der Wind? »Und so wußten wir nicht, was wir tun sollten. Als der Türhüter nach den Namen jener fragte, unter denen wir wählen wollten, wurde kein Name genannt. Einer sah den anderen an …«
    »Ich blickte zu Boden«, warf Lebannen ein.
    »Deshalb blickten wir schließlich zu dem hinüber, der die Namen kennt: dem Meister Namengeber. Dieser beobachtete den Meister Formgeber, der kein Wort gesprochen hatte, sondern wie ein Stumpf zwischen seinen Bäumen saß. Wir kommen nämlich in dem Wäldchen zusammen, zwischen den Bäumen, deren Wurzeln tiefer reichen als die Inseln. Inzwischen war es spätabends geworden. Manchmal ist es zwischen den Bäumen hell, an diesem Abend allerdings nicht. Es war dunkel, kein Sternenlicht, über den Blättern ein bewölkter Himmel. Der Meister Formgeber erhob sich und sprach – aber in seiner Sprache, weder in der Alten Sprache noch auf hardisch, sondern auf kargisch. Wenige von uns kannten es oder wußten überhaupt, um welche Sprache es sich handelte, und wir wußten nicht, was wir denken sollten. Aber der Namer erklärte uns, was der Meister Formgeber gesagt hatte: Eine Frau auf Gont.«
    Er verstummte. Er sah sie nicht mehr an. Nach einer Weile fragte

Weitere Kostenlose Bücher