Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
sie: »Sonst nichts?«
»Kein Wort. Als wir ihn bedrängten, starrte er uns an und konnte nicht antworten; denn er hatte eine Vision gehabt, versteht Ihr – er hatte die Gestalt der Dinge gesehen, das Gesamtbild; nur wenig davon kann in Worten und noch weniger in Begriffen ausgedrückt werden. Er wußte genausowenig wie der Rest von uns, was er von seinen Worten halten sollte. Aber mehr hatten wir nicht.«
Die Meister von Rok waren schließlich Lehrer, und Meister Windschlüssel war ein sehr guter Lehrer; ob er wollte oder nicht – er machte deutlich, was er meinte. Vielleicht deutlicher, als er wollte. Er sah Tenar noch einmal an und blickte dann weg.
»Anscheinend sollten wir nach Gont reisen. Aber wozu? Um wen zu suchen? ›Eine Frau‹ – damit kann man nicht viel anfangen! Offensichtlich soll uns diese Frau führen, uns irgendwie den Weg zu unserem Obersten Magier weisen. Wie Ihr Euch denken könnt, wurde sofort von Euch gesprochen – denn von welcher anderen Frau auf Gont hatten wir je vernommen? Es ist keine große Insel, aber Euer Ruf ist groß. Dann sagte einer von uns: ›Sie würde uns zu Ogion führen.‹ Aber wir wußten alle, daß sich Ogion vor langer Zeit geweigert hatte, Oberster Magier zu werden, und jetzt, da er alt und krank war, die Wahl nie annehmen würde. Ich glaube, als wir davon sprachen, lag Ogion bereits im Sterben. Dann sagte ein anderer: ›Aber sie würde uns auch zu Sperber führen!‹ Und jetzt tappten wir wirklich im dunkeln.«
»Wirklich«, griff Lebannen ein. »Denn zwischen den Bäumen begann es zu regnen.« Er lächelte. »Ich hatte geglaubt, daß ich nie wieder das Geräusch des Regens hören würde. Für mich war es eine große Freude.«
»Neun von uns waren naß und einer von uns glücklich«, stellte Meister Windschlüssel fest.
Tenar lachte. Ob sie wollte oder nicht, sie mochte den Mann. Wenn er ihr gegenüber so vorsichtig war, schickte es sich für sie, ihm gegenüber vorsichtig zu sein; aber Lebannen gegenüber und in Lebannens Anwesenheit kam nur Offenheit in Frage.
»Eure ›Frau auf Gont‹ kann nicht ich sein, denn ich werde Euch nicht zu Sperber führen.«
»Ich war der Meinung«, erklärte der Magier anscheinend und vielleicht wirklich genauso offen wie sie, »daß Ihr es nicht sein könnt, Mylady. Sonst hätte er in der Vision sicherlich Euren Namen genannt. Es gibt wenige, die ihren wahren Namen offen führen! Aber der Rat von Rok hat mich beauftragt, Euch zu fragen, ob Ihr von einer Frau auf dieser Insel wißt, die diejenige sein könnte, die wir suchen – Schwester oder Mutter eines Mächtigen oder auch seine Lehrerin; denn es gibt Hexen, die auf ihre Art sehr weise sind. Vielleicht kannte Ogion eine solche Frau? Es heißt, daß er jede Seele auf dieser Insel kannte, obwohl er allein lebte und in der Wildnis umherwanderte. Wenn er doch noch am Leben wäre, um uns jetzt zu helfen!«
Sie hatte bereits an die Fischersfrau aus Ogions Geschichte gedacht. Aber diese Frau war alt gewesen, als Ogion sie vor Jahren kannte, und war inzwischen bestimmt gestorben. Obwohl Drachen angeblich sehr lange leben, dachte sie.
Für eine Weile sprach sie nicht, und dann sagte sie nur: »Ich kenne keine derartige Frau.«
Sie spürte, daß der Magier seine Ungeduld ihr gegenüber beherrschte. Warum hält sie uns hin? Was will sie? dachte er zweifellos. Und sie fragte sich, warum sie es ihm nicht sagen konnte. Seine Taubheit ließ sie verstummen. Sie konnte ihm nicht einmal sagen, daß er taub war.
»Es gibt also keinen Obersten Magier von Erdsee«, stellte sie schließlich fest. »Aber es gibt einen König.«
»Und unsere Hoffnung und unser Vertrauen in ihn sind wohlbegründet«, fügte der Magier mit einer Herzlichkeit hinzu, die ihm gut stand. Lebannen, der beobachtete und zuhörte, lächelte.
»In den letzten Jahren«, begann Tenar zögernd, »hat es viele Schwierigkeiten, viel Elend gegeben. Mein … das kleine Mädchen … Solche Dinge ereigneten sich nur allzuoft. Ich habe gehört, wie mächtige Männer und Frauen über das Schwinden oder von der Veränderung ihrer Macht sprachen.«
»Jener Cob, den der Oberste Magier und Herr im Trockenen Land besiegten, verursachte unsäglichen Kummer und Schaden. Wir werden unsere Kunst wiederherstellen, unsere Zauberer und unsere Zauberei für lange Zeit heilen«, erklärte der Magier entschlossen.
»Ich frage mich, ob nicht mehr zu tun wäre als Wiederherstellen und Heilen«, meinte sie, »obwohl auch das
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