Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
sie kein Mädchen mehr war, ließ sie sich nicht beeindrucken, sondern wunderte sich nur darüber, wie die Männer ihre Welt zu diesem Tanz der Masken ordneten und wie leicht eine Frau ihn zu tanzen lernte.
Man erklärte ihr, daß man nur einen Tag brauchen werde, um Thalmund zu erreichen. Da sie diesen günstigen Wind in den Segeln hatten, würden sie am Nachmittag in den Hafen einlaufen.
Sie war infolge der langen Verzweiflung und der Anstrengungen des vergangenen Tags noch immer sehr müde, und es genügte ihr, auf dem Stuhl zu sitzen, den der kahle Matrose aus einer Strohmatratze und einem Stück Segeltuch für sie angefertigt hatte, den Wellen und Möwen zuzusehen und zu beobachten, wie sich der Umriß des im Mittagslicht blau und verträumt schimmernden Gontbergs veränderte, als sie nur eine oder zwei Meilen vom Land entfernt an den steilen Gestaden entlangfuhren. Sie holte Therru an Deck, damit sie in der Sonne säße, und das Kind lag schauend und dösend neben ihr.
Ein Matrose, ein sehr dunkler zahnloser Mann, kam auf nackten Füßen mit Sohlen wie Hufen und schrecklich knorrigen Zehen zu ihnen und legte in Therrus Nähe etwas auf das Leinen. »Für das kleine Mädchen«, sagte er heiser und ging sofort weiter, aber nicht weit weg. Er blickte von seiner Arbeit ab und zu hoffnungsvoll herüber, um zu sehen, ob ihr sein Geschenk gefiel, und tat dann, als hätte er nicht hergeschaut. Therru wollte das in Tuch gewickelte Päckchen nicht anrühren. Tenar mußte es öffnen. Es war ein kostbarer geschnitzter Delphin aus Knochen oder Elfenbein, so lang wie ihr Daumen.
»Er kann in deiner Grastasche leben«, schlug Tenar vor, »bei den anderen, den Knochenfiguren.«
Darauf erwachte Therru so weit zum Leben, daß sie die Grastasche herauszog und den Delphin hineinlegte. Tenar mußte zu dem bescheidenen Spender gehen und sich bedanken. Therru wollte ihn nicht ansehen oder mit ihm sprechen. Nach einer Weile bat sie darum, wieder in die Kabine zu gehen, und Tenar ließ sie mit dem Knochenmenschen, dem Knochentier und dem Delphin als Gesellschaft zurück.
Es ist so leicht, dachte sie zornig, es ist für Flinko so leicht, ihr das Sonnenlicht wegzunehmen, ihr das Schiff, den König und ihre Kindheit zu nehmen, und es ist so schwer, ihr das alles zurückzugeben! Ich habe ein Jahr lang versucht, sie ihr zurückzugeben, und er nimmt ihr mit einer Berührung alles und wirft es weg. Was nützt es ihm – was ist sein Gewinn, seine Macht? Ist Macht das – eine Leere?
Sie trat an die Reling zu dem König und dem Magier. Die Sonne stand jetzt weit im Westen, und das Schiff glitt durch die Herrlichkeit des Lichts, die sie an den Traum erinnerte, in dem sie mit den Drachen flog.
»Lady Tenar«, wandte sich der König an sie, »ich gebe Euch keine Botschaft für unseren Freund mit. Denn damit würde ich Euch eine Bürde auferlegen und auch seine Freiheit einschränken, und ich will keines von beidem tun. Ich soll in einem Monat gekrönt werden. Wenn er es wäre, der die Krone hält, begänne meine Herrschaft so, wie mein Herz es sich wünscht. Aber ob er dabei ist oder nicht, er hat mich in mein Königreich gebracht. Er hat mich zum König gemacht. Ich werde es nicht vergessen.«
»Ich weiß, daß Ihr es nicht vergessen werdet«, erwiderte sie sanft. Er wirkte so angespannt, so ernst, durch die Förmlichkeit seines Rangs geschützt und doch so verletzlich in seiner Ehrlichkeit, der Reinheit seines Strebens. Ihr Herz fühlte mit ihm. Er glaubte, den Schmerz erfahren zu haben, aber er würde ihn immer wieder erfahren, sein Leben lang, und nichts davon vergessen.
Und deshalb würde er nie wie Flinko das tun, was sich leicht tun ließ.
»Ich werde gern eine Botschaft überbringen«, antwortete sie. »Es ist keine Bürde. Ob er sie hören wird, ist seine Sache.«
Meister Windschlüssel lächelte. »Das war es immer«, bemerkte er. »Was immer er tat, es war seine Sache.«
»Ihr kennt ihn seit langem?«
»Sogar länger als Ihr, Mylady. Ich bildete ihn aus«, erwiderte der Magier. »Was ich konnte … Er kam als Junge zur Schule auf Rok und brachte einen Brief von Ogion mit, in dem dieser schrieb, daß der Junge über große Macht verfüge. Als ich das erste Mal mit ihm in einem Boot hinausfuhr, damit er lernte, mit dem Wind zu sprechen, brachte er eine Wasserhose zustande. Entweder er ertrinkt, bevor er sechzehn ist, dachte ich, oder er ist Oberster Magier, bevor er vierzig ist … Das heißt, ich stelle mir gern vor, dies
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