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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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enttäuscht. Sie hatte wissen wollen, ob er sich in Sicherheit befand und ob es ihm gutging, aber sie hatte ihn auch hier antreffen wollen.
    Aber es genügte, einfach zu Hause zu sein – und vielleicht war es besser, daß er nicht hier war, daß nichts von all dem hier war, daß aller Kummer, die Träume, das Zauberwerk und das Entsetzen von Re Albi für immer hinter ihr lagen. Sie war jetzt hier, und dies war ihr Zuhause, die Steinböden und Steinwände, die Fenster mit den kleinen Scheiben, vor denen die Eichen im Sternenlicht dunkel standen, die ruhigen, ordentlichen Räume. In dieser Nacht lag sie lange wach. Ihre Tochter schlief mit Therru im Zimmer nebenan, dem Kinderzimmer, und Tenar lag allein in ihrem Bett, dem Bett ihres Mannes.
    Sie schlief. Als sie erwachte, erinnerte sie sich an keinen Traum.
    Nach ein paar Tagen auf dem Hof schenkte sie dem auf dem Oberfell verbrachten Sommer kaum einen Gedanken. Es war lange her und weit weg. Obwohl Shandy darauf bestanden hatte, daß es auf den Hof nicht die geringste Arbeit gebe, fand sie viel, was getan werden mußte: alles, was im Sommer nicht getan worden war, und alles, was in der Erntezeit auf den Feldern und in dem Melkschuppen getan werden mußte. Sie arbeitete von Tagesanbruch bis zur Dunkelheit, und wenn sie zufällig eine Stunde lang sitzen konnte, spann sie oder nähte für Therru. Das rote Kleid war endlich fertig; es war ein hübsches Kleid geworden, mit einer weißen Schürze für besondere Anlässe und einer bräunlichen Schürze für alle Tage. »Jetzt siehst du schön aus!« erklärte Tenar mit dem Stolz der Näherin, als Therru es zum erstenmal anprobierte.
    Therru wendete das Gesicht ab.
    »Du bist schön«, wiederholte Tenar mit veränderter Stimme. »Hör mir zu, Therru. Komm hierher. Du hast Narben, häßliche Narben, weil dir etwas Häßliches, Böses angetan wurde. Die Menschen sehen die Narben. Aber sie sehen auch dich, und du bist nicht die Narben. Du bist nicht häßlich. Du bist nicht böse. Du bist Therru und schön. Du bist Therru, die arbeiten, gehen, laufen und tanzen kann – in einem roten Kleid schön tanzen kann.«
    Das Kind hörte ihr zu; die weiche, unversehrte Seite des Gesichts war genauso ausdruckslos wie die starre, narbenbedeckte Seite.
    Sie blickte auf Tenars Hände hinunter und berührte sie mit den kleinen Fingern. »Es ist ein schönes Kleid«, sagte sie mit ihrer leisen, heiseren Stimme.
    Als Tenar allein war und die Reste des roten Stoffs zusammenfaltete, brannten ihre Augen vor Tränen. Sie fühlte sich zurechtgewiesen. Sie hatte richtig gehandelt, indem sie das Kleid nähte, und sie hatte dem Kind die Wahrheit gesagt. Das Richtige und die Wahrheit waren jedoch nicht genug. Es gab jenseits von Richtigem und Wahrem eine Spalte, eine Leere, einen Abgrund. Liebe, ihre Liebe zu Therru und Therrus Liebe zu ihr, schlug eine Brücke über diese Lücke, eine Brücke aus Spinnweben, aber die Liebe füllte oder schloß die Lücke nicht. Nichts war dazu imstande. Das Kind wußte es besser als sie.
    Die Tag- und Nachtgleiche kam heran, die helle Herbstsonne brannte durch den Dunst. In den Eichenblättern lag das erste Bronze. Tenar hatte im Melkschuppen der süßen Luft Tür und Fenster weit geöffnet, und während sie Schlagsahnetöpfe schrubbte, dachte sie daran, daß ihr junger König an diesem Tag in Havnor gekrönt wurde. Die hohen Damen und Herren würden in blauen, grünen und leuchtendroten Kleidern erscheinen, aber er würde Weiß tragen. Er würde die Stufen zum Turm des Schwerts hinaufsteigen, die Stufen, die Ged und sie hinaufgegangen waren. Man würde ihm Morreds Krone aufs Haupt setzen. Wenn die Trompeten erschollen, würde er sich umdrehen und sich auf den Thron setzen, der so viele Jahre lang leergestanden hatte, und sein Königreich mit den dunklen Augen betrachten, die wußten, was Schmerz, was Angst bedeuteten. Herrsche gut, herrsche lang, dachte sie, armer Junge! Sie dachte: Ged hätte ihm die Krone aufs Haupt setzen sollen. Er hätte hingehen sollen.
    Aber Ged hütete die Schafe oder vielleicht Ziegen des reichen Mannes oben auf den hohen Weiden. Es war ein schöner, trockener, goldener Herbst und sie würden die Herden erst heruntertreiben, wenn oben auf den Höhen Schnee fiel.
    Wenn Tenar ins Dorf ging, machte sie es sich zur Gewohnheit, Eppich in ihrer Hütte am Ende des Dorfs aufzusuchen. Seit sie Tantchen Moor in Re Albi kannte, hegte sie den Wunsch, Eppich besser kennenzulernen, falls sie jemals das

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