Der Eroberer
scheinbar viel besser vertraut . Man kann sagen, ich fühlte mich in dem neuen Rahmen noch mehr zu Hause.
Später erfuhr ich, daß man mich aus dem Sessel gehievt und frei herumlaufen gelassen hatte, wobei ich Davenport begegnete, der in einem ähnlichen Zustand war.
Ich sah ihn deutlich vor mir, fand aber keinerlei persönlichen Zugang zu ihm, hatte auch nicht den Wunsch, mit ihm zu reden. Nach einer Weile kam er jedoch auf mich zu und sagte höflich: »Sie sind also auch frei, Doktor Schmeling. Man hat uns natürlich absichtlich irgendwie zusammengeführt. Wenn wir unseren Zustand beibehalten dürfen, werden wir hoffentlich einmal, sofern Raum und Zeit unserer Welten günstig
zueinander stehen, wieder zusammentreffen. Vielleicht sind
wir uns sogar schon einmal begegnet … in Ihrer Vergangenheit
und meiner Zukunft?«
»Noch nicht«, erwiderte ich.
Verstehen Sie? Davenport und ich lebten in zwei verschiedenen persönlichen Welten, die in keinem direkten Bezug zueinander standen. Die alten Gesetze der Zeit galten nicht mehr, zumindest nicht mehr für uns. Man konnte sich an eine Begegnung mit einer Person erinnern, die für sie noch gar nicht stattgefunden hatte! Wir waren frei, erlebten unsere wirkliche, natürliche Existenz. Ich weiß nicht, welcher fragwürdige Anlaß uns auf die falsche Bahn gelenkt hatte. Jetzt aber war die Wahrheit aufgedeckt. Die blinde Suche nach Mystikern, Philosophen und Wissenschaftlern konnte nach Jahrhunderten vergeblicher Anstrengung endlich abgeschlossen werden. Wir führten ähnliche Tests mit größeren Gruppen durch. King war ebenso begeistert wie ich. Die »Heilung« Davenports stand nicht mehr auf dem Plan. Als er verstand, was mit ihm und Tausenden von eingesperrten »schizophrenen Menschen« geschehen war, nahm er seine Verfassung als normal hin. Uns dagegen hielt er von jetzt an für anormal.
Die Experimente mit größeren Gruppen öffneten unseren Blick für das Paradies. Wir sahen den Himmel, mein Freund; Scharen von Engeln in friedlicher, geordneter Koexistenz, befreit von den Ketten der Konformität, vom Los der Schauspieler, in schlechten Stücken mitzuwirken. Als wirkliche Menschen erkannten sie nun den Sinn und die absolute Relevanz ihres Handelns für ihr persönliches Leben. Mehr noch – in diesem Zustand war jede existenzielle Bedrohung durch andere ausgeschlossen.
Was keine Politik erreicht hatte, war nun Wirklichkeit geworden.
Dank Davenport haben wir die Menschheit von der Sklaverei des Miteinanderseins befreien können. Stämme und Nationen
werden sich auflösen – übrigbleiben werden der unabhängige Mann und die unabhängige Frau.
Schmeling beugte sich vor und streckte mir seinen breiten, runden Kopf entgegen. Er spreizte die langen Finger über dem gewebten Polster der Armlehne. »Freiheit«, wiederholte er. »Wahre Freiheit!«
Aber ich konnte seine Begeisterung nicht teilen. Im Gegenteil, die Vorstellung – von ihrer Möglichkeit wollte ich überhaupt nichts wissen – erschreckte mich. Das Verantwortungslose daran machte mich sogar wütend. Ich versuchte jedoch, mich gelassen zu zeigen.
»Ein hübsches Märchen, Schmeling«, sagte ich mit einem krampfhaften Lächeln. »Ihre Phantasie ist beeindruckend. Aber mal ernsthaft, eine solche Existenz ist doch für jeden intelligenten Menschen geradezu abstoßend. Eine Gesellschaft, so wie wir sie verstehen, gäbe es nicht; und ohne sie könnte keine Zivilisation entstehen. Wir hätten keine Bauwerke, keine Schienenwege, keine Zeitungen.«
»Aber Bücher könnten wir haben … Bücher, die ein Mensch mit Liebe und Sorgfalt in seinem eigenen Verlag erscheinen läßt.« »Wie viele Bücher? Wie würden sie in den Umlauf gebracht? Woher kämen Druckerschwärze, Drucktypen, Ersatzteile für die Druckpresse? Wer würde diese Bücher überhaupt lesen?« »Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie schon mal ein Tier gesehen, das lesen möchte,
Schmeling?«
»Die Frage stellt sich nicht.«
»Ach nein? Aber was Sie für wünschenswert halten, entspricht doch nun wirklich der Existenz des Tieres. Sehen Sie das denn nicht?«
»Ihre Sichtweise ist sehr begrenzt«, sagte er und gähnte – scheinbar absichtlich. »Ich spreche von einem Leben, das ohne Bücher auskommt, nämlich von einem Zustand der Ekstase … vom Himmel auf Erden. Genau das ist uns doch seit Jahrtausenden versprochen worden.«
»Na schön. Bücher werden also nicht gebraucht. Aber der Mensch lebt nicht von Büchern allein … Er muß auch essen!«
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