Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Eroberer

Der Eroberer

Titel: Der Eroberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
Vom Netzwerk:
nickte er eifrig, » manchmal . Manchmal, Herr Doktor. Aber wie ist es mit der übrigen Zeit? Sind Sie so wie ich permanent zur eisernen Selbstkontrolle gezwungen, um in der Lage zu sein, normales Verhalten zu zeigen, vernünftig und logisch zu sprechen, an der Ecke eine Zeitung zu kaufen, die Zeitung zu lesen …«
    »Nein, natürlich nicht.« Ich war wieder gespannt.
    »Natürlich nicht.« Sein bleiches Gesicht verhärtete sich, er preßte die Lippen aufeinander. Dann fuhr er fort: »Vor einiger Zeit, als mein Problem noch längst nicht so bedrohlich war wie heute, las ich einen oft zitierten Satz von John Donne – jenem wortgewandten Narren und Mystiker: ›Kein Mensch ist eine Insel‹. Bestimmt erinnern Sie sich daran und an all den pantheistischen Nonsense dieses Dichters. Nun, ich bin eine Insel, Herr Doktor … abgeschieden von meinen Mitmenschen, inmitten eines Meers, das unwegsamer ist als das Weltall. Ich bin eine Insel, in eigenem Raum, eigener Zeit, ja, eine Insel im eigenen Universum, das mit den anderen Welten kaum in Berührung steht.«
    Sie müssen wissen, daß mir zu diesem Zeitpunkt, ganz anders als heute, noch längst nicht bewußt war, was es mit physischer Individualität eigentlich auf sich hat. Ich wußte im ersten Moment nichts zu sagen. Mir kam nur die in diesen Fällen übliche Phrase in den Sinn: »Seit wann machen Sie diese Erfahrungen?«
    »Seit mehreren Jahren«, sagte er ungeduldig. »Zunächst, wie sie richtig annahmen, nur unmittelbar vor dem Einschlafen, dann auch kurz vor dem Aufwachen, später den ganzen Morgen über, schließlich während Tag und Nacht. Ich bin nicht verrückt, Herr Doktor. Ich weiß, daß dem nicht so ist. Aber ich werde es bald sein, wenn ich mich weiter so krampfhaft an der Wirklichkeit festhalten muß.«
    »Tun Sie mir einen Gefallen«, forderte ich ihn auf, »und lassen Sie sich gehen, damit ich wie in einem gewöhnlichen medizinischen Fall die Symptome untersuchen kann.«
    »Ich soll mich gehenlassen, Doktor? Wo ich nicht einmal weiß, ob mir die Rückkehr in die Normalität gelänge?« Er schien einen Moment lang nachzudenken und sah mich an. Der Trotz in seinen Augen wich einem erschrockenen, flehenden Ausdruck, den ich bei sterbenden Menschen in Todesangst schon beobachtet hatte. »Wenn Sie mir nur auf diese Weise helfen können, werde ich es tun.«
    »Ich kann Ihnen keine Versprechungen machen, bevor ich Ihr Leiden nicht genau untersucht habe«, antwortete ich, und meine Stimme klang fast ebenso angespannt wie seine. »Dann untersuchen Sie, in Gottes Namen!«
    Sein Gesicht entkrampfte sich. Man konnte den Eindruck haben, als ginge es in die Länge. Er taumelte, und ich half ihm in einen tiefen Sessel.
    »Ich habe dir schon einmal gesagt, Tante, daß ich keinen Psychiater sehen will.« Mrs. Thornton war natürlich nicht im Zimmer. Erlebte er die Diskussion, die er mit seiner Tante zur Frage einer ärztlichen Behandlung geführt hatte, wieder aufs neue?
    Ich trat einen Schritt zurück, als er sich aus dem Sessel erhob und zu seiner merkwürdigen, befremdlichen Pantomime ansetzte. Ähnliche Szenen hatte ich bereits bei Patienten gesehen, die unter extremem Schock standen und ständig versuchten, das traumatische Erlebnis zu rekonstruieren. Aber auch das Verhalten war mir immer ein Rätsel gewesen.
    Seine Lippen formten Wörter, aber ich konnte nicht hören, was er sagte. Dann schien es, als würde er sich ausziehen, doch ohne seine Kleider anzutasten. Schließlich nahm er wieder Platz. Er hockte da, wo gar keine Sitzgelegenheit war!
    Verblüfft, um nicht zu sagen verängstigt, stürzte ich auf ihn zu, ergriff seinen Arm, kniete mich nieder und sah, daß seine Füße knapp über dem Boden schwebten.
    Dann bewegte er die Arme, und der Kopf sackte schlaff auf seine Brust, als habe er die Besinnung verloren.
    Ich konnte nicht länger tatenlos zusehen, schüttelte ihn und flehte ihn an aufzuwachen.
    Seine Augen öffneten sich. Er starrte im Zimmer umher, doch mich schien er nicht zu sehen.
    »Doktor«, sagte er, »ich glaube, Sie haben es geschafft.« Er sah an mir vorbei; vielleicht sprach er mit meinem unsichtbaren Ebenbild.
    Um nicht selbst die Beherrschung zu verlieren, packte ich ihn
    an den Schultern und redete auf ihn ein.
    »Davenport … Davenport … ich bin’s, Doktor Schmeling. Sie sind im Haus Ihrer Tante. Im Wohnzimmer. Können Sie mich hören? Verstehen Sie mich?«
    Langsam drehte er mir sein bleiches Gesicht zu; er zitterte am ganzen Körper.

Weitere Kostenlose Bücher