Der Eroberer
dem auch sei, für die Bewohner von Aelfgar war es ein großes Ereignis. Die erste Gelegenheit, in der ihr neuer Herr seine Macht unter Beweis stellte. Und es handelte sich um das schwerste Verbrechen, das sich ein Untertan zuschulden kommen lassen konnte Hochverrat. Alle waren in heller Aufregung und fragten sich bang, welche Strafe der Herr über sie verhängen würde.
Ceidre kämpfte zitternd gegen ihre Tränen an und stand Todesängste aus. Sie hatte den Normannen zu oft herausgefordert, seine Geduld wieder und wieder auf die Probe gestellt.
Nun würde sie am Galgen enden. Sie betete lautlos. Sie betete zu Jesus Christus und allen Heiligen. Sie betete auch zu den alten heidnischen Göttern, die sie nie an gerufen hatte. Sie betete um die Kraft, ihr Schicksal in Würde zu tragen, sie betete um die Kraft, als Märtyrerin zu sterben und nicht als Feigling. Sie befürchtete, im letzten Augenblick die Fassung zu verlieren, sich ihm schluchzend vor die Füße -zu werfen und ihn um Gnade anzuflehen.
Es war noch lange nicht Mittag, und die Zeit schlich unbarmherzig träge dahin. Ceidre beobachtete den Lauf der Sonne, die sich langsam, aber stetig ihrem höchsten Stand näherte. Ein Schatten fiel über das Stroh zu ihren Füßen; Ceidre hob erschrocken den Kopf. Niemand hatte sich bisher so nahe an sie herangewagt. Alice stand vor ihr.
Sie lächelte böse. »Er ist erzürnt, Ceidre. Du hast seinem wertvollsten Gefangenen zur Flucht verholfen. Er wird keine Gnade walten lassen.«
Ceidre schloss die Augen. Bei Gott, das musste sie nicht mit anhören!
Alice ging in die Hocke. »Du wirst sterben, Ceidre.«
Ceidre öffnete die Augen und begegnete dem Blick ihrer Schwester. »Ich ertrage, was ich ertragen muss. «
Alice lachte. »Als bliebe dir eine andere Wahl! «
Zu ihrer Erleichterung stand Alice auf und entfernte sich. Sobald sie gegangen war, krümmte Ceidre sich und würgte trocken. Dann lehnte sie sich keuchend an den Holzpfosten. Es stimmte also: Sie würde hängen. Tief in ihrem Innern hatte sie sich an die schwache Hoffnung geklammert, er würde ihr Leben schonen.
Und dann geschah etwas, das einem Wunder gleichkam.
Sie spürte, wie ihr von Furcht erfülltes Herz sich beruhigte und langsamer schlug. Die grauenvolle Angst, die an ihren Eingeweiden fraß, legte sich. Die Welt um sie herum wurde stiller – alles erschien ihr irgendwie gedämpft: das Blöken der Schafe, das Lachen der Dorfbewohner, das Knirschen und Holpern der Räder eines vorbeifahrenden Ochsenfuhrwerks. Ceidre zitterte nicht mehr. Ihr Körper wurde schwer und träge; sie war völlig entspannt, als habe sie ein Pulver eingenommen, das all ihre Sinne verlangsamte und betäubte. Beinahe so etwas wie Heiterkeit, Unbeschwertheit breitete sich in ihr aus. Die Sonne brannte nicht mehr heiß, sondern wärmte sie sanft. Der Lehmboden war nicht mehr hart und feucht, sondern weich und angenehm kühl. Das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen klang melodischer, das Bellen der Hunde war leiser geworden. Nur ihr Sehvermögen schien sich zu verbessern, sie sah die Färben klarer, die Konturen schärfer. Sie hätte nicht länger das Grauen vor Augen, das sie erwartete. Kein Schreckensbild jagte ihr Angst ein. Sie saß an den Holzpfosten gelehnt, atmete ruhig und gleichmäßig und wartete gelassen, dass man sie holte. Tiefer Frieden breitete sich in ihr aus.
Zur Mittagsstunde verließ Rolfe das Herrenhaus. Er war nicht überrascht, alle Dorfbewohner versammelt zu sehen, hatte es nicht anders erwartet, da er Beltain und Louis losgeschickt hatte, um alle Leibeigenen von den Feldern herbeizuholen. Ganz Aelfgar sollte Zeuge werden, welchen Preis ein Verräter bezahlen musste.
Sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Seine Augen wirkten glanzlos leer. Sein Gesicht war ohne Ausdruck. Er stand wie aus Stein gehauen auf den Stufen vor dem Haus, bemüht, sich von allen Gemütsregungen zu lösen, ein Willensakt, den er jahrelang geübt hatte und beherrschte. So weit, so gut. Das Hämmern seines Herzschlages konnte er nicht beeinflussen, doch er hatte völlige Beherrschung über seinen Körper und seinen Geist.
Lady Alice stand neben ihm hocherhobenen Hauptes, ihre Hand ruhte auf seiner Armbeuge.
Die Dorfbewohner raunten aufgeregt, einer schrie: »Da hinten kommen sie!«
Rolfes Magen drohte sich umzudrehen. Er biss die Zähne aufeinander und blickte Ceidre entgegen, die von Guy hergeführt wurde. Ihre Hände waren hinter ihren Rücken gebunden, ihr
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