Der Eroberer
fiebernde, zitternde Gestalt. Sie wünschte, der Normanne könnte sein Liebchen in diesem Zustand sehen. Dann würde er keine Lust mehr nach ihr verspüren, nur noch Abscheu. Alice weidete sich an dieser Vorstellung, doch die Wirklichkeit holte sie rasch ein. Lord Rolfe würde sie bestrafen, wenn er Ceidre in diesem Zustand sah, Also musste sie schleunigst dafür sorgen, dass sie sich erholte, ehe er zurückkehrte. Es gab andere Wege, um ihre Schwester loszuwerden. Hatte er nicht gesagt, er würde darüber nachdenken, sie zu verheiraten? Vielleicht würde er sie an einen Schotten vermählen, der die Grenzen im Norden zu sichern hatte. Das wäre Ceidres Ende. Eine glänzende Idee!
Alice wollte die Kapelle aufsuchen. Das ganze Dorf sollte wissen, dass sie um die Genesung ihrer kranken Schwester betete. Dorthin wollte sie nun jeden Tag gehen und beten.
Ceidre sah den Tod.
Der Tod war kein furchterregendes, klapperndes Knochenskelett. Er sah auch nicht aus wie der Leibhaftige. Der Tod erschien ihr in Gestalt einer betörend schönen Zauberin, die ihr ewigen Frieden verhieß. Die schöne Frau schwebte über ihr in weißen, wallenden Schleiern, ihre helle Haut schimmerte und duftete süß, ihr Haar umwallte sie lang und honigblond. Die Schöne lächelte verheißungsvoll und winkte ihr zu.
Ja, dachte Ceidre, ich gehe. Ich gehe gern. Ich will keinen Augenblick länger in dieser Hölle bleiben.
Sie hatte Schmerzen. Ihr ganzer Körper war eine einzige Wunde, als sei sie zwischen Steinen zermalmt worden.
Ihre Wunden brannten wie Feuer. Sie hatte unsäglichen Durst, doch es gab kein Wasser. Vielleicht war sie schon gestorben und in der Hölle. Doch dann hörte sie die Stimme ihrer Schwester, die fragte, ob sie sterben würde, und Ceidre wusste, dass sie noch lebte.
Sie dachte an den Normannen, und Zorn wallte in ihr auf. Der schöne Tod winkte ihr wieder zu und lächelte heiter.
»Nein«, versuchte Ceidre zu schreien. »Ich kann noch nicht sterben. Geh weg! «
Doch die Schöne kam näher, immer noch lächelnd, unendlich verlockend und süß. Ceidre fragte sich, ob sie eine Hexe war, und erschrak. Und plötzlich wusste sie, dass die Gestalt, die näher schwebte und sie lockte, dass der Tod sie selbst war.
Ceidre hob die Hand, um das schöne Gespenst, das ihr so ähnlich sah, zu berühren. Ihr anderes Ich, der Tod, oder wer die anmutige Spukgestalt auch sein mochte, streckte ihre weiße durchsichtige Hand mit gespreizten Fingern nach ihr aus. Mit Entsetzen wurde Ceidre gewahr, dass der Tod sie an der Hand nehmen und sie von ihrem irdischen Dasein entführen wollte. Verwirrt fragte sie sich, ob sie ihre Seele sah, die über ihr schwebte und ihren Körper verlassen wollte.
»Komm«, lockte der Tod mit betörend melodischer Stimme. »Komm mit mir.«
Ceidre keuchte angstvoll. Wenn ihre Seele den Körper bereits verlassen hatte, war sie tot. Und dann tauchte das Bild des Normannen vor ihr auf, sein kantiges Gesicht, hart und unbeugsam. Seine Augen senkten sich in die ihren.
»Nein«, schrie sie und zog ihre Hand zurück plötzlich voll Abscheu, die Spukgestalt zu berühren. »Geh weg! Ich komme nicht mit. Noch nicht. Es ist zu früh.«
Der schöne Tod kam unbeirrt näher.
Ceidre wich zurück. Doch es gab kein Entrinnen. Die Frauengestalt, die ihr glich wie ein Spiegelbild, schwebte unaufhaltsam näher. Ceidre wusste, dass sie verloren war und weinte. Als der Tod sein Gesicht an das ihre schmiegte, schloss Ceidre die Augen und ahnte, dass ihr Ende gekommen war … Doch nichts geschah. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Spukgestalt verschwunden.
Und durch ihren Tränenschleier sah sie das runde, lächelnde Gesicht ihrer Großmutter. »Weine nicht, mein Kind.
Es wird alles gut. Du bist zurückgekommen, Ceidre. Du bist wieder bei uns. «
Ceidre sank erschöpft in die Kissen zurück, schloss die Augen, hielt die warme Hand ihrer Großmutter umklammert und wollte sie nicht mehr loslassen. War es ein Traum? Oder hatte sie ihre Seele tatsächlich gesehen?
Rolfe hielt sein Versprechen und kam nach vierzehn Tagen wieder nach Aelfgar zurück.
Eine Woche, nachdem Wilhelms Zorn ihn getroffen hatte, war sein innerer Aufruhr einigermaßen abgeflaut. Doch er konnte nicht vergessen, dass er York wegen Ceidre verloren hatte, dass er seinen König ihretwegen belogen hatte. Und dieses Wissen fraß an seinen Eingeweiden. Es sollte nicht wieder geschehen. Er würde sie unter ständige Bewachung stellen. Und er war fest
Weitere Kostenlose Bücher