Der erschoepfte Mensch
nicht bedacht. »Soll sich halt mehr anstrengen«, d.h. mehr Energie einsetzen, lautet dann meist die zynische Antwort. Hatten wir doch schon mal … »Sollen halt Kuchen essen, wenn sie kein Brot haben … «, hieß es damals, am Vorabend der Französischen Revolution, als das hungernde Volk vor dem Königspalast demonstrierte.
So wie die Luft-Berater beharrlich ignorieren, dass der Mensch nur eine bestimmte Portion Energie besitzt, die aber auch stetig regeneriert werden muss – und nur dann Energiezuwachs erfährt, wenn er oder sie liebt und geliebt wird, was in den Arbeitsbeziehungen meist nicht der Fall ist –, ignorieren die Leidtragenden ihrer Einsparmaßnahmen diese Tatsache. Energie, Lebenskraft – das ist das innere Feuer, der göttliche Funke, das Licht, das wir alle ins uns tragen und immer tragen könnten und sollten, das uns aber ausgeht, wenn wir in Sturm geraten oder das ausgelöscht wird, wenn man uns die Lebensluft entzieht.
»Vielerorts ist das Licht bereits ausgegangen, und um das Leben der Menschen zu erhellen, bleiben nur Drogen, Verbrechen, Alkohol und andere Auswege der Verzweiflung«, resümiert Matthew Fox und schlägt eine Brücke zu der verminderten Kreativität der Menschen, die aus Existenzangst vom Land in die anonymen Großstädte ziehen, wo Selbstausdruck wie auch Mitgefühl weniger zum Lebensstil zählen als in der ländlichen Nähe. »Wenn einem Menschen die Macht entzogen wird, sich auszudrücken, so wird er sich in brutalem Streben nach Macht ausdrücken.« 61
Es besteht ein Unterschied zwischen Macht über andere und Eigenmacht, Schöpfungsmacht und damit Kreativität. Die braucht man, um in schwierigen Situationen neue Problem-lösungen zu finden. Zu zweit oder in Gruppen geht das am besten, Verzicht auf hierarchische Machtspiele und partnerschaftlicher Dialog vorausgesetzt. Dann kann ein stärkender Energiekreislauf in Gang gesetzt werden. Aber genau dafür fehlen die Modelle – daheim und in den Medien. Im alltäglichen Lichtspiel- oder besser: Verdunklungsspieltheater.
Das Alltagsvorbild lautet »Anleitung zum Energieraub« und erzeugt erschöpfte Menschen. Erschöpfung – Verlust des inneren Lichts – bedeutet aber auch, Liebe, Hoffnung und Glauben zu verlieren.
6 . Auf der Suche nach der sexuellen Potenz
Wenn die Menschen die Fähigkeit zur Freude
an dieser unserer irdischen Existenz verlieren,
so kommt es daher, dass sie das Leben nicht genügend lieben
und es zu einer öden Gewohnheitssache werden lassen.
L IN Y UTANG 168
Wenn der Energiepegel absinkt und auch die letzten Kraftreserven zu verschwinden drohen, sucht der Mensch nach Nachschub, und der heißt meistens Nahrung – Essen oder lieber noch Trinken, denn das wirkt schneller. Anstrengung frisst Zucker, Stress lässt den Dopaminspiegel absinken: Man spürt, wie der Muskeltonus nachlässt, wie man zittert, »in die Knie geht«, am liebsten in den Boden versinken würde – oder auf jemanden hin, der einen hält und mit seiner Energie nährt.
Als Ungeborene werden wir über die Nabelschnur genährt – und dieses absolute Versorgtwordensein bleibt als leib-seelisch-geistiges Wissen um diese Möglichkeit und damit auch als Anspruch in unserem Unbewussten verankert. Wenn wir dann als Geborene gestillt werden, bekommt dieses Nährende ein Antlitz, und das ist fast immer weiblich. So wird verständlich, dass Ansprüche auf emotionale Versorgung und Zuständigkeit für körperliches Wohlbefinden sich primär an Frauen richtet im Gegensatz zu Ansprüchen auf kämpferische Verteidigung; diese werden noch immer Männern zugetraut, obwohl die Realität zeigt, dass man darauf nur zählen kann, wenn es um Revier- und Besitzkämpfe mit anderen Männern geht, nicht aber bei familiären Generationenkonflikten oder blankem Existenzkampf. Da ziehen sich viele auf eine Hilflosigkeitsposition zurück, vorausgesetzt, es gibt jemand, der oder die als stärker vermutet – oder listig definiert – wird und den Kraftpart übernimmt.
ZEITGEIST
In vielen therapeutischen, aber auch sozialforscherischen Gesprächen berichteten mir Frauen der Kriegsgeneration, wie sie im Krieg »ihren Mann stellen« mussten und sich auch bewähren konnten, und wie das ihr Selbstvertrauen gestärkt habe – sie erkannten auf diese Weise ja ihre Kraft und ihr Durchhaltevermögen. Ihre Hoffnung, der heimkehrende Mann werde sie nunmehr ablösen, erwies sich hingegen vielfach als Illusion: Der als propagierter potenzieller Held ausgezogen bzw.
Weitere Kostenlose Bücher