Der erste Sommer
Räubergeschichten dreckig machen. Aber davon träumen, das durfte sie. Doch nun stand er leibhaftig vor ihr.
Ferdinands gebräunte Waden hatten goldfarbene Härchen.
»Bist du endlich gekommen?«, herrschte sie ihn an, als hätte sie die ganze Zeit auf ihn gewartet. Das Buch knallte sie auf das Beistelltischchen neben dem Sessel. »Es wird auch Zeit, ich habe seit Tagen keinen Bissen zu essen bekommen. Und mitbringen wolltest du mir auch etwas als Entschädigung für meine Qualen.«
»Hat dir Sophie nichts gebracht? Ich habe doch Befehl gegeben, euch hundertprozentig zu versorgen«, erklärte er vollmundig.
»Ach! Sophie.« Katharina machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was für ein dummes Mädel. Sie versucht, mich zu vergiften.«
»So ein Blödsinn«, antwortete er aufgebracht. »Wenn sie das täte, bekäme sie Ärger.«
»Ach, Ärger bekäme sie«, brauste Katharina auf. »Mehr also nicht?« Sie stand auf. Schon wieder hatte sie sich nicht beherrschen können. Aber es lag nicht an ihr: Er verstand sieeinfach nicht. Warum sagte er nie das, was angemessen gewesen wäre? Dass die anständige Behandlung einer Gefangenen seine oberste Pflicht sei. Irgend so etwas. Sie ging auf den kleinen Balkon hinaus und sah in den verwilderten Garten. Er folgte ihr.
»Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist das, wenn man sich ohne Erlaubnis hinter mich stellt. Du hast kein Benehmen!«
Ferdinand ließ sich nicht beirren. Er machte noch einen Schritt auf sie zu. Durch das dünne Kleid spürte sie seine Brust an ihren Schulterblättern. Der Flaum in ihrem Haaransatz zitterte, wenn er ausatmete.
»Lassen wir das«, sagte sie sanfter, »es hilft ja doch nichts. Du bist –«
Ferdinand blies ihr in den Nacken. Es kitzelte. Hoffentlich hörte er nicht auf.
»Erzähl mir lieber, warum du nicht einmal lesen kannst«, sagte Katharina mit zuckersüßer Stimme.
Wortlos wandte er sich ab und ging zurück in das Zimmer. Sie beugte sich über die Balkonbrüstung.
»Sophie! Dein Verehrer kann nicht einmal seinen Namen schreiben!«
»Du bist gemein«, flüsterte Ferdinand. »Verschwinde doch einfach, und lass uns in Ruhe!«
»Was meinst du?«, fragte Katharina, als wäre sie schwer von Begriff.
»Du sollst verschwinden, mitsamt deinem kleinen Teufel.– Der könnte ein guter Panther werden, wenn er, wenn er nicht so eine böse Hexe als Schwester hätte.«
»Du stotterst ja, mein lieber Ferdinand!«
Ferdinand verließ wutentbrannt das Zimmer. Zwei Minuten später war er keuchend zurück. Mit Katharinas Violine in der Hand und einem Stahlhelm auf dem Kopf. Er kletterteauf das Bett und kratzte auf den Saiten herum, bis Katharina sich die Ohren zuhielt. Da sie unterdessen unverwandt in den Garten starrte, drehte er an den Schnecken der Saiten, bis diese rissen. Katharina reagierte immer noch nicht. Er trat zu ihr auf den Balkon und schlug mit dem Instrument auf die Brüstung ein, bis der Geigenkörper vom Hals abbrach und hinunterfiel. Er drückte ihr den Bogen in die Hand.
»Ich hab völlig freie Hand, was ich mit euch mache«, fauchte er mit bebender Stimme. »Hörst du? Dein Bruder und du, euer Schicksal liegt in meiner Hand.«
Katharina umfasste seine Handgelenke und legte den Kopf in den Nacken.
»Ferdinand, du hast die Hände eines Künstlers! Nur die Nägel solltest du dir hin und wieder schneiden und nicht abkauen. Das sieht kindisch aus.«
»Du Schlange!«
»Hau ab und lass mich mit meinem Unglück allein.«
Tränen standen ihr in den Augen. Sie presste sie mit aller Kraft zusammen und öffnete sie erst wieder, als Ferdinand die Tür hinter sich zugeworfen hatte.
18
»Wann bekomme ich das neue Schloss?«
Der Hausmeister ging auf Annes Frage nicht ein, stattdessen musterte er sie von oben bis unten. Mit seinem schlaksigen Körper versperrte er ihr die Haustür. »Respekt, Respekt! Kein Trauerflor mehr! Recht haben Sie! Fesch sind S’. Das Grün steht Ihnen. Dieser Rock, das passt exquisit zu Ihren roten Haaren. Gehen Sie noch aus, so spät am Abend? Trotz Sperrstunde? Fraternisieren wir wieder?«
»Ich gehe tanzen«, verriet Anne, obwohl sie eigentlich mit ihm böse sein wollte. »Was ist nun mit dem Schloss?«
Im Nachbarhaus war erst in der letzten Nacht ein betrunkener Amerikaner ins Zimmer eingedrungen und hätte um ein Haar ein Mädchen vergewaltigt. Schließlich hatte er sich mit einer goldenen Kette und einem Hirschgeweih begnügt. Der Hausmeister sollte sich um ihre Sicherheit kümmern und nicht um
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