Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
Vom Netzwerk:
entgegnete die Feiste lachend. »Stöhnen dir alle was vor. Ohne Ausnahme.«
    Der Soldat, der spürte, dass über ihn gesprochen wurde, gab auch Anne schnell ihre Scheine zurück und lief dem Jeep nach.
    »Am lautesten stöhnen heute die, die früher die anderen haben stöhnen lassen.«
    Sie hielten sich beide glucksend die Hand vor den Mund und nickten Anne zu. Die Schlange kam in Bewegung. Wieder ging es einen Meter vorwärts.
    »Na, ich finde die aus den Lagern schlimmer. Die kommen nur, um sich bemitleiden zu lassen«, setzte die Hagere die Unterhaltung fort. »Entweder sie rammeln, als ginge es danach zum letzten Gefecht, oder sie wollen bemuttert werden.«
    »Ich kann den Unterschied zwischen denen und ihren Bewachern nicht erkennen.«
    »Klar kann man den Unterschied erkennen, wenn sie nackt sind.«
    »Was du nicht sagst. Das hab ich bisher gar nicht mitbekommen. Beim nächsten Mal sollte ich einmal die Augen auflassen.«
    »Die einen haben ihre Nummer auf’m Unterarm, die andern ihre Blutgruppe in der Achselhöhle tätowiert. Der Staat hat mitgedacht, damit man sie in jeder Lebenslage identifizieren kann.«
    »Muss ich direkt mal drauf achten. Dabei lass ich die Jungens seit dem Untergang immer erst zur Musterung antreten. Das haben sie nicht so gerne, aber meistens ist das Bedürfnis stärker. Dann weiß man wenigstens, ob man sich Tbc oder Syphilis holt.« Sie holte tief Luft. »Am liebsten bleibt mir nach wie vor der deutsche Hans, der sich irgendwie ohne große Sachen so durchgewurschtelt hat. Hausmannskost, aber nur davon wirste satt. Keine Zirkusnummern. Da bekommste mal ’nen Klaps aufn Hintern, und mit der Zahlungsmoral steht es auch nicht zum Besten, aber man weiß wenigstens, dass man was für den Volkskörper geleistet hat.«
    Plötzlich blickten alle in der fast hundert Meter langen Schlange nach vorne. In dem Türrahmen zur Bäckerei stand der Inhaber und brüllte:
    »Brot gibt’s morgen wieder! Wenn es den Amerikanern gefällt.«
    Er drehte sich um und ließ ohne weiteren Kommentar den Rollladen vor der Tür herunter.
    »Dreckiger Hurensohn«, fluchte die untersetzte Frau vor Anne.
    »Man wird geradezu in die Arme des Feindes getrieben«, ergänzte die Hagere.
    Eine Welle der Erregung lief durch die Schlange, machte bei Anne nicht halt, die die Hände in die Taschen ihres Kittels krallte. Sie entlud sich ganz am Ende. Zwei Frauen keiften einen vorzeitig ergrauten Mann mit einer kreisrunden Brille an, er hätte sich vorgedrängelt. Da er nicht reagierte, begannen sie, ihn gegen eine Häuserwand zu schubsen. Anne machte mit geballten Fäusten ein paar Schritte auf sie zu, blieb aber auf halbem Weg stehen und murmelte:
    »Misch dich nicht ein, Anne!«
    Der alte Mann ließ sich an der Mauer in die Hocke gleiten. Sofort waren die drei umringt von einem Pulk Schaulustiger.
    »Vordrängeln gibt’s bei uns nicht!«, schrie eine der Frauen, zog ihren Schuh aus und schlug dem Opfer, das sein Gesicht in den Händen verborgen hatte, auf den Kopf. Es knackte bedrohlich, und der mit Tapetenkleister befestigte Absatz brach ab. Anne musste lachen. Es brach aus ihr mit einer Macht heraus, gegen die sie nicht ankam. Seit Monaten hatte es sie nicht mehr so geschüttelt, sie konnte einfach nicht mehr aufhören. Fassungslos drehten sich die beiden wütenden Frauen zu ihr um und schüttelten ungläubig den Kopf. Anne verschluckte sich und hustete. Hastig wandte sie sich ab.
    »Komm, Lisbeth, wir machen uns an Schiebern nicht die Hände schmutzig!«, beschwichtigte die eine Frau ihre Freundin und zog die immer noch vor Zorn Bebende weg. Der Grauhaarige blinzelte die Umstehenden an. Von seiner Stirn tropfte dunkles Blut. Während er seine Brille zurechtbog, knurrte er:
    »Schleicht’s euch, die Komödie ist zu Ende.«
    Die Menge um das Opfer zerstreute sich. Anne wischte sich die rotblonde Strähne aus der Stirn. Ohne noch einmal zurückzusehen, ging sie weiter.
    An der nächsten Häuserecke lehnten die beiden Frauenaus der Schlange und rauchten ungeniert vor einem mit Zetteln gespickten Zaun. Tauschangebote, Vermisstenanzeigen und Arbeitsgesuche hingen wild durcheinander. Die meisten hatten aufgeklebte Kuverts in der Ecke für die Antworten. Nach starkem Regen wurden die Angebote wieder auf den gültigen Tauschpreis aktualisiert.
    »Verzeihen Sie, dass ich Ihnen vorhin zugehört habe, aber –«, sprach Anne die beiden kurz entschlossen an, wurde aber von der Hageren barsch unterbrochen:
    »Was biste denn so rot

Weitere Kostenlose Bücher