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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Ballonmütze tiefer ins Gesicht.
    »Ich habe schon eine Prinzessin getötet, also pass auf, mit wem du sprichst.«
    Sein Gegenüber gab sich unbeeindruckt. »Im Traum, oder was?«
    Ewald sah ihn verächtlich an und wollte weitergehen.
    »Ich habe Schusser. Willst du mit mir spielen?«, fragte ihn kleinlaut der andere.
    Ewald schüttelte abwehrend den Kopf, nach ein paar Schritten besann er sich aber doch anders und ging zurück. Neugierig musterte der Junge ihn von der Türschwelle aus.
    »Ich muss noch in den Krieg«, verkündete Ewald gönnerhaft. »Aber wenn ich fertig bin, komme ich vielleicht.«
    »Der Krieg ist vorbei.«
    »Ist er nicht«, stellte Ewald fest.
    »Du bist ein Langweiler«, erklärte der Junge. »Mein Papa ist wieder da, und der sagt, dass er vom Krieg die Schnauze voll hat.«
    »Ich bin kein Langweiler. Mein Vater ist in Russland, als Staatsgefangener.«
    »Das kann jeder sagen. Hast du Beweise?«
    Ewald zuckte mit den Schultern. Sie schwiegen.
    »Bist du später noch hier?«, fragte Ewald nach einer Weile.
    Der Junge mit den Lederhosen spürte seine Überlegenheit und fuhr sich über den Scheitel.
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Kommst du wieder? Ich kann hier auf dich warten«, bettelte Ewald. Über ihm wurde ein Fenster aufgerissen.
    »Helmut!«, rief eine Frauenstimme. »Komm sofort hoch, Papa hat Hunger.«
    Wortlos stand Helmut auf und verschwand im Hausflur. Bevor die Tür zufiel, schob Ewald den Fuß in den Türspalt und drückte sie auf. In dem Treppenhaus war es angenehm kühl. Er lauschte auf Musik, die quäkend aus einem Radio drang. Stimmen, Lachen. Ein vielstimmig gemurmeltes Tischgebet.
    Es half alles nichts, er musste in den Krieg. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu. Die Schusser, die Helmut vergessen hatte, stopfte sich Ewald in die Hosentaschen und ging schnell weg.
    Seine Front verlief nur ein paar hundert Meter entfernt quer durch einen unzugänglichen Hinterhof. Den Zugang kannte nur Ewald. Durch einen muffeligen Keller musste man robben. Manchmal schreckte er dabei ein paar Ratten auf. Aber vor denen hatte er keine Angst. Im Hinterhof, der eingesäumt war von Mauerresten, stand seine Armee, jeder Soldat aufgeschichtet aus fünf bis zehn Ziegelsteinen, mit einem Brett für die Arme und einem massiven Brocken als Kopf. Je nach Dienstgrad hatte er ihnen Stofffetzen und manchen auch einen Helm aufgesetzt. Die konnte man von den Kreuzen auf den Friedhöfen klauen.
    Verbissen warteten seine Männer auf ihn. Immer gab es Streit, den nur er schlichten konnte. Meist ging es darum, wer in einem Gefecht mehr englische Riesen oder französische Gnome mit Wunderraketen getroffen hatte. Oder wer die Brigade an den Feind verraten hatte. Normalerweise hörte er sich geduldig die verschiedenen Standpunkte und Zahlenkolonnen an, verglich sie mit seinen Strichlisten, schlüpfte in jede Rolle und ließ sich einzelne Kämpfe nachspielen, bevor er entschied. Die Urteile lauteten generell auf Todesstrafe. Die Exekution wurde sofort vollzogen. Ewald ging dafür drei Schritte zurück, nahm einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn auf den Verurteilten. Traf er, war die Sache erledigt. Traf er nicht, musste der Ankläger daran glauben.
    Aber an diesem Nachmittag machte ihm seine Armee keine Freude. Statt sich den Rapport anzuhören, saß er im Schatten unter einem Strauch und blinzelte in die Sonne. Auf seinen Beinen krochen riesige Ameisen, die höllisch brannten, wenn man sie zerdrückte. Mit der Spitze seines Stockes malte er ohne hinzusehen eine Spirale in den staubigen Boden. Ewald dachte über die Russen nach, von denen alle sprachen. Vielleicht würde er auch einmal Russe werden. Die konnten machen, was sie wollten. Denen verbot keiner etwas.
    Auf einmal stutzte er. Unbeabsichtigt hatte er mit der rechten Hand eine geriffelte Kugel ausgegraben. Ewald grinste bis über beide Ohren, weil er genau wusste, was für einen Schatz er da gehoben hatte. Dieses Ding war wertvoller als eine ertrunkene Prinzessin. Ferdinand würde Augen machen. Sein Vater hatte panische Angst davor. Als er bei seinen Streifzügen im letzten Winter eine mit nach Hause gebracht hatte, hatte er geschrien, bis sein Gesicht angelaufen war. Mama hatte im Schlafzimmer geheult. Katharina hatte das Ding gepackt und es verschwinden lassen. Erst da hatte sich Papa wieder beruhigt. Ewald hatte versprechen müssen, so etwas nie mehr anzufassen. Aber das Versprechen galt nicht mehr. Sein Vater kam nicht wieder. Er stopfte die

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