Der erste Tod der Cass McBride
würde ja aussehen, als hätte jemand einen riesigen Haufen auf dem Sofa hinterlassen.«
Ich lachte über Dads Witz, Mom lachte nicht.
Mom trug kein Braun mehr, stattdessen jede Menge Beige und irgendwie verblasste sie, ging zwischen den weißen Wänden des Hauses unter. Dad stolzierte durch die Räume. Seine stahlgrauen Anzüge durchschnitten das Weiß der Wolken, meine pfirsich-, türkis- und pinkfarbenen Kleider sorgten für Farbtupfer und Wärme. Dad und ich wurden zu einer Einheit und Mom trieb allein dahin. Sie war einfach nicht sonderlich interessant.
Aber dann überraschte sie mich. An jenem Tag war sie alles andere als uninteressant.
Mom kam in die Küche. Sie stellte einen Koffer neben der Tür ab und hielt ein Fotoalbum in der Hand. Ich erkannte es. Es war das Album mit meinen Babybil dern. Sie trug ein bräunliches, weites Top, beigefar bene Hosen - und Schuhe, wie sie Krankenschwestern tragen. Wo hatte sie die bloß her?
Sie setzte sich, legte das Album auf den Tisch, aber ihre Finger hielten es weiter an einer Kante umklam mert, als ob einer von uns es ihr entreißen könnte. Dad und ich aßen gerade Rührei mit Toast, das ich zube reitet hatte. Er trug einen Anzug und eine königsblaue Krawatte und ich eine türkisfarbene Seidenbluse. Mom blickte drein wie ein winziger Zaunkönig, der am Futterhäuschen zwei große Eichelhäher vorfin det.
»Ich habe euch etwas mitzuteilen«, setzte sie an. »Tut mir den Gefallen und unterbrecht mich nicht, bis ich fertig bin.«
Mom fordert etwas? Das war neu.
»Ted, ich bin es leid, dir immer beipflichten zu müssen. Ich war dumm, aber das hat jetzt ein Ende.«
Dad legte die Gabel auf den Tisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ich sah ihm an, dass er ver blüfft war.
»Cass, ich gehe fort von hier und ich wünsche mir, dass du mit mir kommst. Ich bezweifle, dass du das tust, aber ich flehe dich an, mitzukommen.«
»Wohin gehst du?«, fragte ich.
»Nach Louisiana.«
Mom war in Louisiana geboren. Ihre Schwester ar beitete dort als Lehrerin an einer Schule und ihr Schwager hatte mitten in der Sumpflandschaft an ei nem Bayou so einen Laden für Fischköder und eine Kneipe, in der es Bier und gekochte Flusskrebse gab.
Dad entfuhr ungläubig ein bellender Lacher. »Wo mit willst du dein Geld verdienen? Ich schaffe mein Vermögen beiseite und du siehst davon keinen roten Heller.«
»Ich werde für Suzanne und Charlie kellnern.«
»Du willst kellnern?« Ich konnte mein Entsetzen nicht verbergen. »Das schmutzige Geschirr von ande ren Leuten wegräumen? Bestellungen aufnehmen und dich wie Dreck behandeln lassen?«
»Warum nicht?«, entgegnete Mom. »Hier tu ich doch auch nichts anderes.«
Ooookay. Das versetzte mir einen Schlag. Mom traf den Nagel auf den Kopf und es fühlte sich nicht gut an. Aber ich musste meine Situation genau wie Dad analysieren.
Mom liebte mich. Das wusste ich. Aber sie würde mich immer lieben. Wenn ich mit ihr ginge, würde Dad mich abschreiben. Wenn ich Dad und Mom ha ben wollte, dann musste ich bei ihm bleiben. Meine Freunde waren hier. Mein Leben war hier. Und wollte ich wirklich ein großes Haus in einer großartigen Wohngegend aufgeben, um in den Sümpfen zu leben und mir Schwimmhäute zwischen den Zehen wach sen zu lassen?
Jetzt würde ich mir gern Schwimmhäute zwischen den Zehen wachsen lassen. Ich würde Schuppen und eine gespaltene Zunge in Kauf nehmen. Ich würde am Bayou Flusskrebse verkaufen und Köder zuschneiden - alles wäre mir lieber, als hier zu sein. Die Wahl fällt auch nicht wirklich schwer. Wer würde schon sagen: »Hey, reservier mir einen Platz in einer Kiste unter der Erde«?
Stopp.
Kiste, Erde, unter - sind tabu.
Mein Atem ging abgehackt. Ich atmete ein und hielt die Luft an. Atmete wieder aus. Langsam.
Ich durfte diesen Worten nicht einmal in Gedanken Raum geben. Ich fühlte, wie eine Woge Adrenalin mich durchströmte. Ich arbeite an meiner Zen-Gelassenheit. Ich bin ruhig, stark und habe alles unter Kontrolle.
Zurück zu Teds Lehren.
Plane deine Strategie.
Erstens: Was ist mein Ziel?
Simpel. Ich will aus dieser Kiste raus. Zurück an die Erdoberfläche.
In Ordnung.
Zweitens: Wie erreiche ich mein Ziel?
Ich kann mich nicht selbst ausgraben. Ich habe keine Ahnung, wie tief ich unter der Erde bin. Ich würde ersticken.
Ich könnte darauf warten, dass mich jemand findet.
Wie stehen die Chancen, dass das passiert?
Schluchzer schnürten mir erneut die Kehle zu.
Entspann dich, Cass, atme.
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