Der erste Tod der Cass McBride
gelernt und schwieg. Ich vermute, in diesen Pausen überlegte Kyle, was er mir erzählen wollte, wie viel von meinem Gerede er ertragen konnte. Das zu erkennen, war wichtig.
»Und so wurde meine Mutter keine Arztgattin. Dad arbeitet als Pharmavertreter. Jep. Er handelt mit Medikamenten. Nicht ganz das, was Mom geplant hatte. Und in ihren Augen war alles Davids Schuld. Er hat ihre Pläne durchkreuzt.
So wie ich das sehe, hatte Dad allerdings nie das Zeug zum Arzt, aber meine Mutter weigert sich, einzusehen, dass sie ihn schon damals in der Schulzeit falsch eingeschätzt hat. Außerdem ist Dad nach wie vor ihr Versorger. Sie kann ihre Wut nicht an ihm auslassen, also bekommt es David doppelt zu spüren. Und zu allem Überfluss sehe ich aus wie Mom und David sieht aus wie mein Vater.
Das Leben hat für David nur einen Haufen Zitronen bereitgehalten und er konnte sich anstrengen, wie er wollte, es war klar, dass es ihm nie gelingen würde, Limonade draus zu machen.«
Kyle hielt eine Weile inne. Versank wahrscheinlich in Erinnerungen. Ich ruckelte ein bisschen hin und her. Ich glaubte nicht, dass es für mich etwas dazu zu sagen gab. Es war besser, abzuwarten. Ich bog meinen Rücken durch, aber ich verriss mir etwas und bekam einen Krampf. Mein Körper wurde zunehmend kälter und steif. Kyle schwieg noch immer. Ich musste einen Versuch wagen.
»Woher weißt du das alles? Dass sie mit dir schwanger wurde, um deinen Dad in die Falle zu locken? Dass sie David die Schuld daran gab, dass dein Dad kein Arzt geworden ist?«
Wieder dieser Laut, der ein Lacher sein sollte.
»Ich glaube, meine Mutter war schon immer fies, aber in ihrer Jugend konnte sie es vertuschen, weil sie süß wirkte. So bekam sie, was sie wollte. Doch als es mit dem Niedlichsein vorbei war, blieb ihr nur noch die Fiesheit. Verstehst du?«
Ich dachte an meine Pose - Grübchenlächeln & schief gelegter Kopf. Was würde mir bleiben, wenn ich dafür nicht mehr jung genug war? Meine Gedanken wanderten zu Dad, für den ich unbedingt als eine McBride eine gute Partie machen musste ...
»Ich habe nichts anzuziehen«, sagte Mom.
Dad hatte uns gerade eine Einladung gezeigt. Er war zum Unternehmer des Jahres ernannt worden. Ein großer Fisch in einem kleinen Teich, aber er platzte vor Stolz.
»Leatha, ich weiß, dass du solche Veranstaltungen hasst. Bemüh dich nicht. Cass wird mich begleiten«, erklärte er.
Ich beobachtete die Szene, wusste, dass dies ein Mo ment von großer Tragweite war. Mom und Dad blick ten einander in die Augen. Sie gab als Erste auf und wandte den Blick ab. Es war entschieden. Dad hatte seine Wahl getroffen, seine Mannschaft aufgestellt, aber ich konnte es noch ändern. Ich konnte...
Dad reichte mir seine Visa Card. »Nach oben sind keine Grenzen gesetzt«, sagte er. »Sorg dafür, dass dein alter Vater gut aussieht.«
Ich schweifte ständig ab. Ich verarbeitete die Informationen zu langsam.
Dann wurde mir schlagartig klar, was er da gerade gesagt hatte.
»Sie hat es dir erzählt?«
»Oh ja, das hat sie. Immer und immer wieder. Ich glaube, das erste Mal war sie betrunken, aber die anderen Male nicht. Sie fing davon an, wenn sie sauer war oder sich selbst leidtat. Und sie erzählte es David. Sagte ihm, dass er, David, der Grund sei, warum Dad kein Arzt war, sondern nur Vertreter und dass sie deshalb nicht eingeladen wurde, dem Country Club beizutreten, und dass er der Grund sei, warum wir nicht im exklusivsten Wohnviertel lebten, und dass er der Grund dafür sei, dass ihr Leben ein gesellschaftliches und finanzielles Desaster war.«
»Oje«, flüsterte ich. Was hatte ich auf den Zettel geschrieben? ... muss der sich schon ziemlich weit ans Ende der Nahrungskette begeben ...
»Oje, genau.«
»War sie auch zu dir fies? Oder nur zu David?«
Bei der Frage verfiel er erneut in Schweigen. Ich wartete ab.
»Sie war unberechenbar. Manchmal spielte sie uns gegeneinander aus, oder ...« Er schwieg wieder.
»Es sind so viele Geschichten passiert, dass es schwierig ist, sich an alle im Einzelnen zu erinnern - aber ein Ereignis sticht heraus: Das war der Schulball in meinem Abschlussjahr. Ich kam im Smoking die Treppe runter und Mom saß mit David auf dem Sofa. Sie schauten sich Comics an. Normalerweise nannte sie ihn wegen seiner Comics einen Nerd und warf sie in den Müll, nur um ihn zu ärgern. Aber diesmal hatte sie ihm sogar fünf Comics oder so gekauft und sie lasen sie gemeinsam. David strahlte so sehr, dass sein Gesicht zu
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