Der erste Verdacht
Miene beobachten zu können. Aber Irene kannte alle Vernehmungstricks und hatte sich eine Strategie zurechtgelegt.
»Bonjour, Monsieur Verdier«, sagte sie lächelnd.
»Bonjour, Madame Huss«, antwortete Verdier und unternahm nicht den geringsten Versuch, seiner Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen.
»Auch eine Tasse Kaffee?«, fragte Irene freundlich und deutete auf die Kaffeekanne.
»Nein, danke.«
Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich, als er seine dünnen Lippen zusammenpresste. Für seine Verhältnisse war das eine ungewöhnlich lebhafte Mimik. Der Blick, den er Irene zuwarf, war superfrostig.
»Was wissen Sie über den Vorfall gestern Abend?«, fragte er.
»Das haben Sie schon am Telefon gefragt. Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen«, antwortete Irene bestimmt.
»Sind Sie sich da sicher?«
»Ja, natürlich.«
Er sah sie durchdringend an, aber Irene kannte diese Taktik bereits und erwiderte seinen Blick gelassen. Ein geladenes Schweigen trat ein, und Irene entschied sich, es zu brechen.
»Ist es nicht langsam an der Zeit, dass Sie mir sagen, was passiert ist?«
Verdier unternahm einen weiteren Versuch, sie mit seinem Blick zu bezwingen, gab dann aber auf. Abrupt erhob er sich und holte sich eine Kaffeetasse. Er füllte sie zur Hälfte mit Milch und goss dann bis zum Rand Kaffee dazu. Hastig kippte er den Zuckerstreuer drei Mal über der Tasse um und rührte dann heftig. Die hellbraun verfärbte Milch schwappte auf die Untertasse. Er trank einen Schluck der Mischung, als wolle er sich für das Bevorstehende stärken. Schweigend beobachtete ihn Irene und wartete sein nächstes Manöver ab.
Die kühle Fassade des Inspektors hatte Risse bekommen. Er war nicht dumm und besaß Intuition. Natürlich musste es ein frustrierendes Gefühl sein, dass die Inspektorin bedeutend mehr wusste, als sie ihm verraten wollte. Er ahnte, dass sie irgendwie in den dramatischen Vorfall vom Vorabend verwickelt war, wusste aber nicht, wie.
»Es ist doch Kajsa nichts zugestoßen?«, fragte Irene, und es gelang ihr, besorgt zu klingen.
»Nein.«
Verdier nahm noch einen Schluck von seinem Milchkaffee, ehe er fortfuhr: »Gestern Abend um Viertel vor zehn war aus Rothstaahls Wohnung ein Schuss zu hören. Mehrere Nachbarn riefen die Polizei, aber als die Kollegen eintrafen, war niemand mehr in der Wohnung, nur die Tür stand offen, und in der Wand des Treppenhauses war ein Einschuss.«
Irene sperrte die Augen auf und versuchte, entsetzt zu wirken.
»Ein Schuss? Aber wer …?« Absichtlich beendete sie den Satz nicht.
»Wir wissen nicht, wer geschossen hat. Hingegen wissen wir, dass sich zwei Männer in der Wohnung befanden.«
Zwei Männer? Irene hoffte, dass ihr Gesichtsausdruck sie nicht verriet. Verdier warf ihr einen prüfenden Blick zu und fuhr dann fort: »Die Nachbarn hörten den Schuss. Niemand wagte jedoch, die Tür zu öffnen, um nachzusehen, aber einige stellten sich hinter die Wohnungstür und lauschten. Erst rannte der eine Mann die Treppe hinunter. Ein paar Minuten später hörten sie eine zweite Person, aber langsamer. Ein Nachbar öffnete die Tür und sah gerade noch einen großen, breitschultrigen Mann. Er war blond.«
»Hat dieser Nachbar den Mann erkannt?«, unterbrach Irene.
»Nein. Er sah ihn auch nur von hinten.«
»Und der erste Mann … hat den auch jemand gesehen?«, fragte Irene.
Sie war wirklich froh, dass sie ihre Seglerschuhe angehabt hatte. Kein feminines Klappern, wenn man mit ihnen rannte. Sie rannte auch wirklich schnell, dank sei ihrem jahrelangen Joggen! Außerdem hatte man es natürlich ganz besonders eilig, wenn auf einen geschossen wurde.
»Nein. Niemand hat ihn gesehen. Aber wir haben noch nicht alle Zeugen vernommen«, erwiderte er scharf.
Die beiden Männer, die vor dem Restaurant Austern geöffnet hatten, erschienen vor Irenes innerem Auge. Sie konnte nur hoffen, dass sie zu viel zu tun gehabt hatten, um die große Frau zu bemerken, die kurze Zeit nach dem Schuss in der Menge der Passanten aufgetaucht war. Und Lucy! Die hatte sie fast vergessen. Es konnte Ärger geben, falls Verdier mit ihr sprach. Plötzlich verspürte Irene das Bedürfnis, den Inspektor schnellstmöglich aus dem Hotel zu schaffen. Aber wie? Sie hatte das deutliche Gefühl, dass er sie im Auge behalten wollte, bis die Maschine mit Kajsa und ihr an Bord abgehoben hatte. Am Vorabend war ihr keine Zeit geblieben, die Wohnung zu durchsuchen. Auf einmal fiel ihr ein, dass die französische Polizei
Weitere Kostenlose Bücher