Der erste Verdacht
die Wohnung vermutlich nach dem gestrigen Vorfall durchsucht hatte.
»Ist etwas aus der Wohnung entwendet worden?«, fragte sie. Verdier zuckte mit den Achseln.
»Keine Ahnung. Uns ist jedenfalls nichts aufgefallen. Haben Sie eine Vermutung, was das hätte sein können?«
»Vielleicht. Haben Sie irgendwelche Disketten gefunden?«
»Computerdisketten?«
»Ja.«
Er dachte eine Weile nach, dann ergriff er sein Handy und wählte. Nach einer kurzen Unterhaltung steckte er es wieder weg.
»Nein. Es wurden keine Disketten gefunden. Warum wollen Sie das wissen?«
»Die Computer von Bergman und Rothstaahl wurden nach den Morden gestohlen, und wir haben auch keine Disketten am Tatort in Göteborg gefunden. Wir glauben, dass uns die Computer oder Disketten einen Hinweis darauf geben könnten, was die beiden planten. Solange wir nichts finden, können wir darüber nur Mutmaßungen anstellen.«
»Und hier in Paris gibt es auch keine Disketten. Wahrscheinlich sind noch mehr Leute am Treiben dieser beiden Herren interessiert«, stellte Verdier fest.
Irene überlegte rasch ihre Alternativen. Es war besser, gemeinsam mit Verdier die Wohnung zu durchsuchen, statt gar nicht mehr dorthin zurückzukehren. Außerdem wollte sie ihm keine Gelegenheit geben, mit Lucy zu sprechen. Daher sagte sie leichthin: »Vielleicht haben sie die Disketten ja versteckt. Wir sollten nach ihnen suchen.«
»Meinen Sie, dass sie sie in der Wohnung versteckt haben?«
»Ja.«
Verdier erhob sich.
»Auf geht’s.«
Methodisch durchsuchten sie die ganze Wohnung. Sie fanden keine einzige Diskette, aber in einem Schuhkarton in der Kleiderkammer drei Tütchen mit einem weißen Pulver. Verdier rieb sich von dem Pulver aufs Zahnfleisch und klassifizierte es ohne Zögern als Kokain. In einer Videohülle fanden sie Dutzende rosa Tabletten, wahrscheinlich Ecstasy.
Sie ließen sich auf den Plüschsesseln nieder und legten die Drogen auf den Couchtisch. Nachdenklich betrachtete Verdier den Fund.
»Das sind etliche Gramm Kokain, sehr große Mengen. Wussten Sie, dass sie mit Drogen handelten?«, fragte er.
»Nein. Aber zu Bergmans Glanzzeiten soll einiges an Kokain konsumiert worden sein«, antwortete Irene.
Verdier nickte und versank dann in nachdenkliches Schweigen.
»Diese beiden Männer hier bezeichneten sich selbst als Berater und brachten skandinavische Unternehmen dazu, in ihren Aktienfond EuroFond zu investieren. Laut Ihren Angaben und denen meines Kollegen war Rothstaahl schon einmal in London in so eine Sache verwickelt. Wir wissen jetzt, dass sie sich auch mit Drogen beschäftigten. Ich frage mich, wie sie es wagen konnten, solche Risiken einzugehen?«
Er sah Irene an, und da ihr nichts Besseres einfiel, konterte sie mit einer Gegenfrage: »Was für Risiken?«
»Gefasst zu werden. Rothstaahl muss klar gewesen sein, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis jemandem sein Name und Unternehmen auffallen würde. Das System ist dasselbe wie beim letzten Mal. Überdies begannen er und sein Partner auch noch, mit Drogen zu handeln, denn dies hier übersteigt den Eigenbedarf. Das wirkt nicht sonderlich schlau. Rauschgiftdelikte werden hierzulande streng geahndet. Ich habe den Eindruck, dass sie verzweifelt waren.«
»Verzweifelt?«, wiederholte Irene etwas dumm.
»Ja. Sie brauchten offenbar dringend Geld.«
Sie dachte über seine Worte nach und musste ihm Recht geben. Sie sah sich in dem öden Wohnzimmer um, das ganz und gar nicht dem Standard entsprach, an den sich Philip Bergman während seiner Erfolge mit ph.com gewöhnt hatte.
Weshalb waren sie so sehr auf schnelles Geld aus gewesen? Hatten sie das Lebensgefühl und das viele Geld der späten Neunziger zurückholen wollen? Oder war es um ganz andere Dinge gegangen?
Irene versuchte nachzudenken, fand aber keine plausible Erklärung. Wahrscheinlich waren Rothstaahl und Bergman Verbrecher gewesen, die keinerlei Skrupel gekannt hatten, und die vor nichts zurückgeschreckt waren, wenn’s um Geld ging. Richtig gewissenlos und geldgierig mussten sie gewesen sein, da sie offenbar auch mit Drogen gehandelt hatten.
Bergmans Aufstieg und Fall in der Geschäftswelt wirkte irgendwie jämmerlich, vom Goldenen Kalb, das alle bewundert hatten, zu einem zwielichtigen Betrüger und Dealer. Die letzten Jahre hatte er ein halboffizielles Leben als Partner einer anderen dubiosen Figur aus der Welt der Finanzen geführt. Irgendwie konnte sich Irene keinen Reim darauf machen; da stimmte etwas nicht. Nur
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