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Der erste Weltkrieg

Der erste Weltkrieg

Titel: Der erste Weltkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Berghahn
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nicht mehr allein auf individuelle Bittgesuche an den Staat zu verlassen, sondern hatten ein gemeinsames Sprachrohr. Doch auch die Rente, die jetzt gezahlt wurde, blieb während des Krieges sehr schmal. So erhielt eine kinderlose Witwe 630 Lira pro Jahr. Das zusätzliche Kindergeld bei bis zu fünf Kindern erhöhte diese Summe bis 1918 um nur 150 Lira auf 780. Eine Angleichung an die Inflationsrate fand nicht statt. In England bewilligten die Behörden bis zum März 1919 an die 190.000 Witwen- und 10.000 Waisenrenten. Später stieg die Zahl der Letzteren auf rund 350.000.
    Indessen lässt sich der Anstieg der Frauenarbeit nicht nur mit der wirtschaftlichen Not der Unterschichten erklären. Vielmehr betrachteten viele Frauen ihre Entscheidung, erwerbstätig zu sein, auch als patriotische Tat. In der Produktion von Kriegsmaterial oder als Helferinnen in den Ministerien und Organisationen erbrachten sie ihren Beitrag zu den unaufhaltsam steigenden Kriegsanstrengungen. Einige bezahlten ihre Arbeit mit ihrem Leben, da es vor allem bei der Munitionsproduktion immer wieder zu schweren Explosionsunfällen kam. Das patriotische Argument galt in besonderem Maße für die vielen meist unverheirateten und jungen Frauen, die sich als Schwestern und medizinische Assistentinnen in den Lazaretten verdingten. Was sie dort erlebten, wenn sie jungen Männern bei der physischen und seelischen Bewältigung einer Amputation halfen oder ihnen in hoffnungslosen Fällen das Sterben fern von der Familie erleichterten, erforderte große innere Stärke. Aus den Memoiren, die einige dieser Frauen nach dem Weltkrieg veröffentlichten, ist bekannt, welch schwere Aufgabe sie übernommen hatten, die sie zugleich trauriger und selbstbewusster machte.
    Nicht alle von ihnen waren überzeugte Feministinnen. Aber es war doch klar, dass sich für sie das alte patriarchalische Verhältnis von Mann und Frau durch den Weltkrieg verändert hatte. Eine Folge davon war, dass sie – wie immer der Krieg für ihr Land auch ausging – eine größere Teilhabe an Gesellschaft und Politik zu erringen hofften. In dieser Beziehung entstand ein Erwartungsdruck, den Hugenberg 1914 im Hinblick auf die von der Front heimkehrenden Arbeiter und deren Gleichberechtigungsforderungenvorhergesehen hatte. Auch Frauen drängten jetzt mehr denn je und unter Hinweis auf ihren Beitrag zum Krieg auf politische und rechtliche Gleichstellung. Allerdings wurden diese Ziele nach 1918 nur teilweise erreicht. Wohl wurde in Russland, Deutschland und Österreich auch Frauen das Wahlrecht zugestanden. Engländerinnen mussten bis 1928, Französinnen gar bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges warten, um als volle Bürgerinnen anerkannt zu werden.
    Auch die beruflichen Hoffnungen, die sich durch ihre Arbeit im Kriege erhöht hatten, erfüllten sich nicht. Glaubten sie, ihre Stellung auf Dauer errungen zu haben, so mussten sie nach 1918 erfahren, wie ihr Arbeitsplatz an einen der Männer ging, die nun von der Front zurückkehrten. Auch innerhalb der Familie versuchten die Männer, die Uhr zurückzustellen und die fast überall in Europa vor 1914 bestehenden Geschlechterverhältnisse wiederzuerrichten. In Zeitungen, Zeitschriften und Büchern liefen die Kampagnen gegen die emanzipierte «moderne» Frau, die Partnerschaft und eine bis dahin nicht gewährte Unabhängigkeit forderte; die selbstständig und sportlich war; die Zigaretten rauchte und Motorrad fuhr. Für viele Männer waren dies Schreckensbilder, die in ihren Augen bewiesen, wie weit der Weltkrieg herkömmliche Gesellschaftsnormen und Konventionen untergraben hatte.
    Doch sind wir mit diesen Beobachtungen sozialen Wandels in die Nachkriegszeit vorausgeeilt. Mochte es ansatzweise schon vor 1918 um die Veränderung der Geschlechterverhältnisse gehen, Fragen der freien Lebensgestaltung waren damals weitaus weniger wichtig als die Notwendigkeit, für das Wohl der Familie zu sorgen. Soweit dies vom Zugang zu Lebensmitteln abhing, war eine halbwegs menschliche Existenz in England und auch im nicht besetzten Frankreich weitaus eher garantiert als in Zentraleuropa oder Russland. Im britischen Königreich hatte der Beginn des Krieges sogar einen paradoxen Effekt. Bis Ende 1914 herrschte dort noch genügend Prosperität, um gar eine erhöhte Nachfrage, z.B. bei Kinderschuhen, hervorzurufen.
    Auch in der Freizeitgestaltung gab es zunächst keine radikalen Veränderungen. Die Oberschichten gingen weiterhin zurFasanenjagd und spielten Cricket; das

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