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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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Sei­te führ­ten die Stu­fen auf ein win­zi­ges Stein­ge­bäu­de zu: ei­ne säu­len­för­mi­ge Hüt­te mit ei­nem Al­tar. Die­se Stu­fen wa­ren um­ringt von „Az­te­ken“, die be­ob­ach­te­ten, wie der „Kö­nig“ an ih­nen vor­bei­ge­tra­gen wur­de.
    Die far­ben­präch­ti­gen Fe­dern, die den Kopf­schmuck der Pries­ter aus­mach­ten, wieg­ten sich im Wind, als die Pup­pe, die einen ge­fan­ge­nen Kö­nig dar­stell­te, vom Thron ge­ho­ben wur­de. Ah­med streck­te den Arm aus, stel­let die Ka­me­ra auf die Pup­pe ein und be­tä­tig­te das Zoom. Einen Mo­ment lang füll­te das glat­te, lee­re Ge­sicht der Pup­pe den gan­zen Bild­schirm aus. Dann ver­deck­ten die Pries­ter die Sze­ne, und wir sa­hen nur noch vier tra­gen­de Hän­de und ein paar Ar­me und Bei­ne, als sie die letz­ten Schrit­te auf den Al­tar zu mach­ten.
    Vier lin­ke Hän­de? Das ge­fiel mir nicht! Ich ver­such­te mir vor­zu­stel­len, ei­ner die­ser Pries­ter zu sein. Kraft­auf­wand, Ge­wicht, die Ge­fahr des Ab­stür­zens, die Auf­re­gung, in der et­was schief­ge­hen konn­te. Plötz­lich er­schi­en mir der Ka­len­der­stein am Him­mel wie ein großes Uh­ren­ge­sicht, aber das war kein Ka­me­ra­trick. Ich sah weg, schau­te aus dem Fens­ter, sah über uns die Son­ne schei­nen und er­blick­te in dem Ka­len­der­stein va­ge ein großes Zeit- und Schick­sals­rad. Ich hal­lu­zi­nier­te.
    „Warum hat die Pup­pe denn ein sol­ches Ko­stüm an?“ frag­te Ann.
    Ah­med sag­te: „Manch­mal klei­den sie ih­re Op­fer an wie den Gott selbst, da­mit sie auch si­cher­ge­hen, daß die See­le beim Rich­ti­gen lan­det.“ Er dreh­te den Ton lau­ter.
    Die ge­lehrt klin­gen­de Stim­me des Kom­men­ta­tors sag­te: „Nach­dem man in ganz Eu­ro­pa die Op­fe­rungs­ri­tua­le ge­mä­ßigt hat­te, Pup­pen ein­setz­te oder nur sym­bo­li­sche Op­fer brach­te, fuh­ren im Jahr 1500 nur noch die Az­te­ken da­mit fort, ih­re Py­ra­mi­den mit dem Blut Tau­sen­der mensch­li­cher Op­fer zu be­net­zen. Die Ge­fan­ge­nen, die an sol­chen be­son­de­ren Ta­gen wie dem heu­ti­gen ge­op­fert wur­den, wa­ren die reins­ten und hüb­sche­s­ten Jung­frau­en und Kin­der, aber auch Häupt­lin­ge oder de­ren Söh­ne. Die Az­te­ken glaub­ten, große See­len wür­den sich mit der Son­ne ver­ei­nen und zu ih­rem Glanz bei­tra­gen. Ge­fan­gen­ge­nom­me­ne Kö­ni­ge wur­den ge­hegt und ge­pflegt und dann ge­op­fert.“
    Es wa­ren herr­li­che Far­ben, ro­te und pur­pur­ne Fe­dern, und auf dem Kopf der Pup­pe be­fand sich ei­ne Fe­der­kro­ne. Der Kopf­schmuck der Pries­ter be­saß ei­ne phan­tas­ti­sche, sym­bo­li­sche Form. Die Pries­ter tru­gen die Pup­pe zum Al­tar und leg­ten sie rück­lings, mit dem aus­drucks­lo­sen Ge­sicht nach oben, auf die Plat­te. Zwei star­ke Pries­ter be­weg­ten die Ar­me, und die Brust des Op­fers wölb­te sich wie bei ei­nem rich­ti­gen Men­schen. Vier Män­ner wa­ren nö­tig ge­we­sen, um die Pup­pe zu tra­gen. Je ei­ne Hand. Vier lin­ke Hän­de. Wie schwer moch­te sie sein? Wenn die Pup­pe mit Stroh ge­füllt war, hät­te auch ei­ner ge­nügt.
    Je­der wuß­te, daß die Az­te­ken-Kom­mu­ne nur Sa­do­ma­so­chis­ten auf­nahm, aber das war ih­re ei­ge­ne Sa­che, so­lan­ge sie in den ei­ge­nen vier Wän­den blie­ben und kei­ne Frem­den in das mit­ein­be­zo­gen, was sie mit­ein­an­der ta­ten.
    Ich mus­ter­te das ne­ben uns ste­hen­de Az­tec-Buil­ding durch die Wind­schutz­schei­be. Es war ein rie­si­ger Turm, der nicht nur Geld re­prä­sen­tier­te, son­dern auch das Recht auf den Wahn­sinn, in der ei­ge­nen Pri­vat­sphä­re nach den ei­ge­nen Ge­set­zen zu le­ben. Der Mo­tor des Ko­pters än­der­te sei­nen Ton. Of­fen­sicht­lich paß­te die Ma­schi­ne sich den wech­seln­den Wind­ver­hält­nis­sen an, die zwi­schen den Tür­men drau­ßen herrsch­ten. „Wo­her weißt du ei­gent­lich, daß das ei­ne Pup­pe ist?“ frag­te ich.
    Ah­med gab kei­ne Ant­wort, aber ge­hört hat­te er mich. In mir kroch so was wie Angst hoch. Ich be­tä­tig­te den In­ter­kom-Knopf un­ter dem Bild­schirm, der das Bü­ro der Ret­tungs­bri­ga­de zeig­te. Judd dreh­te sich um und sah uns

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