Der Esper und die Stadt
an.
„Woher wissen Sie, daß das eine Puppe ist?“ sagte ich zu Judd Oslow. „Das ist keine Puppe, sondern ein Mensch! Und sie werden ihn opfern!“
Judd schnappte sich ein kleines Mikrofon und sprach etwas hinein. Zwischen den Anweisungen sagte er zu mir: „Ich schicke euch eine fliegende Ambulanz rüber, aber mehr können wir nicht tun. Der Tip eines Espers reicht leider nicht aus, um dort einzudringen.“
Der Hohepriester stand jetzt über der auf dem Altar liegenden Gestalt, blickte zum Himmel hinauf und hob ein Messer in die Luft. Er bewegte sich nicht. Der Schatten eines hohen Masts lag auf der Brust der Puppe wie der Zeiger einer Sonnenuhr.
„Warum tragen sie diese Schürzen über ihren Kostümen?“ fragte Ann. „Sie sehen aus wie Hausfrauen.“
„Um das Blut aufzufangen“, antwortete Ahmed.
„Sind die blöd“, sagte Ann. „Sie haben doch ganze Stapel von Puppen da drüben. Es sind doch nur Puppen.“
Ich hatte darauf geachtet, daß sie nichts von meiner Idee über die vermeintliche Puppe mitbekam. Ich wollte ihr die Stimmung nicht verderben. Der Hohepriester stand immer noch da, hielt das gebogene Messer in die Luft. Er schaute in die Sonne und hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt.
Der Kommentator zählte die Sekunden. „Zwanzig, neunzehn … Sehen Sie, wie der Schatten über die Brust des Opfers fällt. Wenn die Sonne den Mittelpunkt berührt … Elf, zehn, neun … Die anderen Priester singen und zählen die Sekunden. Zu schade, daß wir sie aufgrund der großen Entfernung nicht hören können.“
Die Kamera zeigte einen Brustkorb, der aussah, als bestünde er aus Federn, Kornhalmen und grünem Haferstroh.
Das Bild schwankte, als die ferne Kamera auf ihrem verankerten Ballon von einem Aufwind erfaßt wurde. Die Zusatzeinrichtungen verkleinerten automatisch den visuellen Effekt des Schwankens, indem die Kamera zurückfuhr und ein Fischauge benutzte, durch das wir nicht nur die stufenförmige Pyramide auf dem Dach des zwanzigstöckigen Gebäudes sahen, sondern auch die umliegenden Teile von New York. Die Perspektive war äußerst komisch. Wir sahen riesige, nach außen kippende Gebäude und die künstliche Rundung des Bodens.
„Drei, zwei, eins – und jetzt ist der Augenblick der Opferung gekommen“, sagte die Stimme des Kommentators von den TV-Schirmen her. Wir sahen die kleinen Gestalten in der Ferne auf der großen Pyramide stehen. Ahmed steuerte unsere Bildschirmkontrollen aus, legte den Telerahmen über den Altar und vergrößerte. Mit einer sichtlichen Gebärde der Anstrengung, bei der beide Arme den Messergriff festhielten, säbelte sich der Hohepriester durch die grünen Korn- und Strohhalme und blieb in etwas hängen, das ihm offenbar Widerstand leistete. Die Priester, die die Arme hielten, packten fest zu. Der Hohepriester machte einen langen, geraden Schnitt und beschrieb dann mit der Klinge einen Kreis. Plötzlich war er rot, hell- und leuchtendrot, im Gesicht, an den Armen und auf der Schürze. Die Farbe eines Schlächters.
Hier war gerade ein Verbrechen begangen worden. Am liebsten wäre ich zu ihnen hinübergegangen und hätte das Opfer mitgenommen – solange man es noch ins Leben hätte zurückrufen können. Aber die Azteken befanden sich auf eigenem Grund und Boden. Kommunen haben ihre eigene Polizei, um die Ordnung aufrechtzuerhalten – aber sie besteht aus ihren eigenen Mitgliedern. Ohne eingeladen zu sein, durften wir ihr Haus nicht betreten. Und die Azteken luden niemals Fremde zu sich ein.
Ich stand abrupt auf, blickte durch das Fenster auf der Gegenseite, warf einen langen Blick auf den New Yorker Hafen und sah über den Atlantic Highlands den vertikalen Rauchstreifen eines
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