Der Esper und die Stadt
passiert mir nichts. Die meisten Leute mögen mich und haben nichts dagegen, wenn ich mich im Gebiet ihrer Kommune aufhalte. Eine Bande weggelaufener Halbwüchsiger war jedoch der Meinung gewesen, daß es an der Zeit sei, endlich mal zu zeigen, wer hier der Herr im Hause war.
Nachdem sie mit dem Treten fertig gewesen waren, hatten sie mich außerhalb ihres Territoriums auf einem Bürgersteig zurückgelassen und mir die Finger mit chinesischen Fesselröhren an die Zehen gebunden. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich mich befreien konnte und zur Karmischen Bruderschaft runterging, um in deren Kommune zu schlafen.
Die Brüder im Vorderzimmer sagten, ich würde eine wichtige Gruppenmeditation stören, da ich schlechte Vibrationen ausstrahle und besorgt sei. Dann gaben sie mir eine Tasse Tee und schoben mich mitsamt meinem Schlafsack hinaus. Mich ziemlich ungeliebt fühlend, marschierte ich los und fing an, mir die Steifheit aus den Muskeln zu massieren. Ich mußte irgendwas Spaßiges tun, um wieder gute Laune zu kriegen. Ich verließ den Grüngürtel, um der Rettungsbrigade zu sagen, daß ich mir einen halben Tag freinahm.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, kletterte ich den Ostturm der George-Washington-Brücke hinauf. Ich nahm dabei die harte Tour über die Verstrebungen, klammerte mich mit nackten Händen und Füßen an, kletterte an herabhängenden Kabeln hinauf und setzte mich ab und zu irgendwohin, um das Glitzern der Sonne auf dem Wasser zu beobachten, das über dreißig Meter tief unter mir lag. Große Schiffe glitten auf dem Wasser dahin und sahen aus wie Spielzeuge.
Der Wind blies gegen meine Haut. Manchmal war er warm, dann wieder kalt und feucht. Ich sah einem Wolkenteppich zu, der von Süden her über den Fluß trieb; er verdunkelte die Türme großer Gebäude, wurde zu einer dunkelblauen Insel auf dem hellen Blau des Flusses, kam näher und wurde größer. Dann lag eine lange Zeit ein kühler Schatten über der Brücke, und ich sah auf und beobachtete, wie sich zwischen mich und die Sonne eine dunkle Wattewolke schob.
Die Wolke zog weiter, und das Licht gleißte. Ich schaute weg, hatte plötzlich schwarze Punkte vor den Augen und sah zu, wie der Wolkenschatten im Westen auf eine gigantische Klippe zusteuerte und hinter derem höchsten Punkt verschwand. Ich suchte mir einen Weg über einen steilen, abschüssigen Träger und bewegte mich äußerst vorsichtig, weil die Punkte immer noch vor meinen Augen waren. Tief unter mir erklangen die stetigen Verkehrsgeräusche von dem weißen Band der untersten Ebene der Brückenstraße. Die Radfahrer auf der obersten Ebene radelten vorbei wie Ameisen.
In der Ferne stieg mit flatternden Schwingen eine Möwe auf und kam auf mich zu. Sie fand einen Aufwind und ließ sich mit ausgebreiteten Schwingen treiben. Sie bewegte sich nicht und blieb schwebend vor mir stehen, mit hübschen weißen Flügeln, einem sardonischzynischen Kopf mit nach unten gerichtetem Schnabel und ausdruckslos musternden Augen.
Es reizte mich, die Hand auszustrecken und zuzupacken. Ich verlagerte den Griff einer Hand auf der Querverstrebung und schwang ein Knie über den Träger.
Die Möwe richtete die Spitzen ihrer Schwingen nach unten, stieg auf und entfernte sich wieder. Sie war jetzt etwas weiter weg.
Schließlich wurde mir klar, daß ich nicht dumm genug war, um mich von einer Möwe hereinlegen und von der Brücke stürzen zu lassen.
Die Möwe kippte zur Seite, jagte einen langen, unsichtbaren Abhang hinab und kreischte: „Krie! Ha, ha, ha. Ha, ha, ha …“ Es klang wie ein Gelächter. Ich hoffte, sie würde zurückkommen und sich mit mir anfreunden, aber ich hatte noch nie davon gehört, daß jemand Freundschaft mit einer
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