Der Eunuch
Julienne sanft. „Mich wundert sehr, daß Sie bei den Benediktinern von Grosbois nicht mehr gelernt haben. Oder wußten die selbst nichts? Ich habe keine Angst vor Worten. Was ich aufwarf und was Sie so empört, ist etwas Ureinfaches. Es ist die Frage, ob die Menschen Geschöpfe Gottes oder Gott ein Geschöpf der menschlichen Phantasie sei. Mit dieser Frage müssen Sie selbst fertig werden. Ich bin damit fertig geworden, und darum glaube ich, wir brechen das Gespräch vorläufig ab.“
Sie wollte gehen, aber der Fürst umklammerte sie. Fast mit Gewalt hielt er sie zurück.
„Glauben Sie denn nichts?!“ Er schrie es.
„Ein Gran Wissen ist mir lieber als eine Welt voll Glauben. Warum hat - wir wollen einmal annehmen - Ihr lieber Gott uns Verstand gegeben, wenn wir keinen Gebrauch davon machen dürfen? Das ist so was, wie die Geschichte mit dem Apfel, und für solche Marotten habe ich als Frau schon gar kein Verständnis, Der Apfel ist da und wird gegessen. Für Götter zu ausschließlich herrschaftlichem Gebrauch hab’ ich nichts übrig!“
„Und die Gnade?“ flehte er. „Ich bitte Sie, Kirina, junge Herrin, Fräulein, Sie sind doch eine Frau. Sie haben doch meine Traktate gelesen. Die Gnade, deren wir alle bedürfen! Auch daran glauben Sie nidit?“
„Die Gnade ist eine geschminkte Hure, die immer dann auftaucht, wenn die Gerechtigkeit einmal ernst machen könnte. Gnade für Ihren Adel, für die Begüterten; für das gemeine Volk aber, wie ihr die Menschen nennt, die euch ernähren, ein unerbittliches Recht, das nichts weiter ist als teuflische Ungerechtigkeit.“
„Und was ist Ihre Gerechtigkeit, auf die Sie so großen Wert zu legen scheinen?“
„Beschäftigen Sie sich mit dem kleinen Einmaleins, mit der Multiplikation der ersten zehn Zahlen. Dann wissen Sie es.“
„Und wo finde ich diese Gerechtigkeit?“
„Überall im Kampf mit Ihren Göttern.“
Durch eine fast unmerkliche Bewegung hatte sich Julienne dem Fürsten entzogen. Es war, als sei ihr inzwischen ein Reifrock angewachsen. Zwei ihrer Finger faßten ihn an der gedachten Peripherie, und so entschwebte sie, wie es so unvergleichlich schon ihre Großmutter, Olympia Mancini, verstanden hatte.
23
Viele Menschen hatte Julienne im Reiche Osmans kennengelernt, darunter drei bemerkenswerte Männer. Alle drei zusammen waren das Gespann vor ein und demselben Wagen, einer Troika, und alle drei so verschieden untereinander wie nur möglich: Rakoczy, Beschir, Bonneval. Zwei von ihnen waren weltberühmt, der dritte war ein Geheimnis. Aber gerade Beschir hielt die Mitte unter dem hohen
Bogen des Osmanischen Reiches. Die beiden anderen waren nur die Seitenbespannung.
In der Lage, in die Julienne selbst sich gebracht hatte, bekamen diese Männer für sie als Frau Bedeutung. Immer war Julienne gegen die junge Männlichkeit spröde gewesen und weit aufgeschlossener gegenüber den Älteren. Mahmud war der erste ihrem Alter gemäße jüngere Mann, an dem sie Anteil genommen hatte. Aber in dem Augenblick, als aus dem unbekannten Schützling ein Kaiser, das höchstbegehrte Wesen eines ganzen, großen Harems geworden war, hatte die panische Furcht vor dem Verlust der Unbedingtheit ihr den scheinbar so natürlichen Weg aus seelischen und körperlichen Spannungen wieder verschlossen.
Allerdings waren ihre erotischen Möglichkeiten wenig begrenzt, und so konnte sie auf einen gleichaltrigen Partner und überhaupt auf einen Partner schließlich verzichten. Gelegentlich freilich kam sie sich wie in einem Irrgarten vor, in den ihre Triebe sie gesperrt haben -ein Gefühl, das abzuwerfen ihr stets gelang. Sie war eben der Sproß einer jener feudalen Familien, für die das Erzielen von Nachkommenschaft eine mehr gesellschaftliche Angelegenheit war, wobei es nicht so darauf ankam, auf welche Weise dieser Pflicht genügt wurde. Wenn nur alles sich in gleichen adeligen Kreisen abspielte, verbot es schon der primitivste Anstand, einer Vaterschaft nachzuspüren. Später waren die hohen Damen vollends frei, jede geschlechtliche Neugier und jede persönliche Laune zu befriedigen. Das alles kannte Julienne und wußte, daß ihre Frau Mutter nur die Unvorsichtigkeit begangen hatte, sich nicht vorher verheiraten zu lassen. Fürstliche Verbindungen kamen allerdings nicht immer leicht zustande, und eine andere einzugehen war das Fräulein Soissons zu vornehm gewesen.
In dieser so ganz anderen Welt des Ostens hatte Beschir Julienne als seine Mitarbeiterin gewonnen. Unter dem
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