Der Eunuch
letzten Thronumwälzung verstrichen. Das war lange her, und die Haremsjugend des Neuen Serails wußte wenig von dem Damals, als Sultan Ahmed an seines Bruders Stelle den Thron bestiegen hatte. Da war es doch ganz natürlich, sich hoher Verwandter zu erinnern, die zu jener Zeit schon erwachsen gewesen waren, um von ihnen gelegentlich einer kleinen Plauderstunde über derartige schreckliche Vorgänge vielleicht etwas Näheres zu erfahren. Seit Jahren hatte jedenfalls das Alte Serail nicht so viele Besuche empfangen, wie gerade jetzt. Nicht daß man die Abdankung der Majestät offen erörterte! Zuversichtlichkeit war der Beweis einer kaisertreuen Gesinnung, und diese Gesinnung zu hegen, hatten zumindest die Frauen Sultan Ahmeds allen Grund. Wenigstens die meisten. Daß aber die Mutter des fünfzehnjährigen Sultan Selim, Ahmeds Ältestem, den Aufstieg zu der überragenden Machtstellung einer Sultana Walide, einer Kaisermutter, begehren könnte - das öffentlich anzudeuten, war keiner und keine verwegen genug. Um so mehr dachte man daran als an eine Möglichkeit, wenn nicht eine Wahrscheinlichkeit.
Wie es sich für einen Mann von Ahmeds Kultur von selbst verstanden hatte, war Kia Sultana mit jeder Auszeichnung bedacht worden, die ihr als seiner Chasseki, seiner Innigstbegünstigten, zugekommen war. Dennoch glaubte man gelegentlich bemerkt zu haben, daß sie sich in ihrer Machtstellung von den Jüngeren bedroht fühle. Im Neuen Serail waren ihr Ehrgeiz und ihre Herrschsucht also bekannt, und mehr als sonst sah sie sich an den Tagen und Stunden, da es um den Thron, wenn nicht um den Kopf ihres Gatten ging, von Frauen und Eunuchen umbuhlt - die ihrer eigenen Zukunft gedachten. Ahmed war Mustafa II., seinem Bruder, gefolgt, aber er selbst hatte keinen Bruder mehr. Wer anders als Sultan Selim, der immer als Schahzadeh, als Thronfolger, gegolten hatte, kam also für die Nachfolge in Frage?
Und dann würde Kia Sultana bei einer Absetzung ihres Gatten wesentlich früher Walide werden, als sie bei Ahmeds guter Gesundheit und verhältnismäßiger Jugend es sonst hätte hoffen dürfen.
Unter den hohen Damen des Alten Serails, die den kleinen und großen Kämpfen am Goldenen Horn mehr zuschauten als unmittelbar an ihnen teilzunehmen Gelegenheit hatten, war Aigische Sultana, Mustafa II. Witwe, der Abgeklärtesten eine. Auch bei ihr waren genug Besucherinnen erschienen, und des Bewirtens mit Scherbet, de3 Bestäubens mit Düften war kein Ende gewesen, hatte sie doch vor siebenundzwanzig Jahren aus allernächster Nähe den letzten Thronumsturz erlebt, als dessen Hauptleidtragende sie hinterblieben war. Sie war nicht nur Mustafas Frau und die erste Dame seines Harems gewesen, sondern sie hatte ihn geliebt. Und mit ihm hatte sie alles verloren. Aus der ersten Dame war eine der Beiseitegestellten des Alten Serails geworden, die alle mieden, deren Dienst das erlaubte. Wer wollte schon die eigene Laufbahn gefährden? Nur Beschir hatte sich der Vereinsamten und ihrer Kinder angenommen, bei deren Geburt er schon zugegen gewesen war. Und daran hatte sich nichts geändert. Die vier Jahre von Beschirs Verbannung waren nur eine Unterbrechung gewesen. Ohne jedes Gepränge erfolgten seine Besuche bei Aigische. Meist legte der hohe Würdenträger den Weg vom Neuen zum Alten Serail zu Fuß zurück, höchstens daß er bei schlechtem Wetter sich einer Sänfte bediente.
Mit den Jahren waren diese Zusammenkünfte für jedermann eine feststehende Einrichtung geworden, die weder Beschir noch seine hohe Freundin mehr missen mochte. Man plauderte, spielte Schach oder ließ sich auch einmal zu den Karten herab, Aigische Sultana berichtete mehr oder auch weniger Erfreuendes aus dem Leben und Lernen ihres Sohnes Mahmud, und auf diese Weise bildete sich eine Art Familienleben heraus, das für die Sultana eine Anregung, für Beschir eine Entspannung war, und außerdem gewann Aigische, ohne es eigentlich zu wollen, auf diese Weise einen Bruchteil ihres früheren Einflusses zurück.
An keinem Tage wäre der Besuch des Kislars im Alten Serail sonst überhaupt bemerkt worden, an diesem Abend geschah es dennoch hier und dort. Aus der Wiederaufnahme einer alten Gewohnheit glaubte man Folgerungen ziehen zu dürfen. Die meisten Stimmen fand die Auslegung, daß die Krisis im Neuen Serail vorüber sein müsse, wenigstens für den Padischah, wenn Ibrahim Pascha vielleicht auch verloren sei. Aigische Sultana wußte ebensowenig. Aber sie hatte einen jener kleinen Winke
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