Der Eunuch
und wenn er jetzt von dem Vorrecht Gebrauch machte, unangemeldet bei seiner Mutier einzutreten, so war es doch nicht die richtige Stunde, und die unauffällige Kleidung ließ auf einen geheimen Besuch schließen. Tatsächlich hatte er den Weg auch ohne Ehrenwache zurückgelegt, die in Wirklichkeit nur die Eskorte eines Staatsgefangenen war. Aigische Sultana hatte demnach alle Ursache, erstaunt zu sein, als ihr Mahmud die Hand küßte. „Meine Herrin haben befohlen?“ sagte der Sultan.
Fragend sah die Dame den Kislar an.
„Euer kaiserliche Hoheit haben ganz recht, in mir den Schuldigen zu vermuten“, antwortete er auf Unausgesprochenes, und damit wußten die andern, daß sie nicht von ungefähr zu dritt hier waren. Aber alle drei waren zu gut erzogen, um dabei zu verweilen und dadurch etwas, das bereits deutlich war, noch deutlicher zu machen. „Ihre kaiserliche Hoheit, unsere höchstzuverehrende Herrin, mein Sultan“, fuhr Beschir fort, „geruhte gelegentlich unseres Schahspiels, wenn es mir gestattet ist, Hochdero Worte zu deuten, eine Anspielung auf eine zwar geringe, doch in den letzten Tagen vielgenannte Person zu machen. Ich meine Patrona Chalil. Er und sein Freund Mußli sind einfache Janitscharen und dennoch die Ursache größter Wirren.“
„Unser Padischah wird mit. ihnen schon fertig werden“, gab Mahmud als Antwort, die bewies, daß der junge Herr nicht umsonst in einem Palastgefängnis und in der mütterlichen Schule Aigische Sultanas großgeworden war. Sogar Beschir, dem Vertrautesten der Vertrauten gegenüber hielt sich der Prinz zurück.
„Hoheit haben natürlich recht“, stimmte Beschir ihm bei. „Auf dem Schahbrett freilich konnte der gemeine Soldat siegen. Aber was ist schon ein Brett, verglichen mit den Möglichkeiten des Osmanischen
Reiches?“
„Und doch hörte ich sagen“, flocht Aigische mit halbem Scherz ein, „es genüge, auf das erste Quadrat des Schahbretts ein Weizenkorn zu legen und bei jedem weiteren zu verdoppeln, um zum Schluß eine Weizenmenge zu errechnen, die auf der ganzen Welt nicht zu beschaffen sei. So vernahm ich es. Exzellenz wissen das sicher besser.“
„Die Philosophen würden sagen, daß zwischen groß und klein kein Unterschied sei.“
Und jetzt, da kein Zweifel mehr bestand, daß mit dem Soldaten des Schahspiels Patrona Chalil gemeint sei, kam Beschir dem, was ihn hergeführt hatte, etwas näher:
„Bleiben daher wir - wenn ich es den Hoheiten vorschlagen darf —, die wir nicht unter der Kuppel sitzen und keine Wesire sind, bei unserm geliebten Schah, und lassen wir die Welthändel denen, die sie beizulegen berufen sind. Auf dem Schahbrett kann man den Zug berechnen, der zum Sieg oder zur Niederlage führt.“
„Und in der Politik kann man das nicht?“
„Mahmud!“ ermahnte die Mutter ihren Sohn und zerriß zugleich tapfer alle Verschleierungen. „Merkst du nicht, daß der Kislar, der immer unser Freund und Beschützer war, sich sorgt?“
„ Iich sorge mich in der Tat“, gab Beschir zu. „Ich bin in der unglücklichen Lage, annehmen zu müssen, daß ich als einziger die Notwendigkeit erkenne, während die andern, darunter kluge und bewährte Männer, im Irrtum oder, was noch schlimmer ist, in Gleichgültigkeit verharren. So oft ich die Angelegenheiten dieses Reiches überdenke, komme ich immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Aber ich frage mich: warum nicht die andern, warum nicht die Wesire der Kuppel, warum nicht die Männer des Schwertes, warum nicht. . . der Padischah? Doch ich verirre mich. Diese Hirngespinste sind kein Thema, Eure Hoheiten damit zu behelligen.“
Was er gehofft hatte, geschah. Mutter und Sohn widersprachen. Ohne seine letzten Ziele preisgeben zu müssen, konnte Beschir also die Politik entwickeln, deren Notwendigkeit der Padischah nicht hatte erkennen wollen. Mit Aigische Sultana schien es sich anders zu verhalten. „Aber es ist doch noch nicht zu spät“, sagte sie, als er geendet hatte. „Wenn die Wirren erst überwunden sind ... sie werden doch überwunden werden?“
„Ich befinde midi nicht unter den Handelnden des Neuen Serails. Hoheit sehen mich hier bei sich.“
„Hier ist nicht Ihr Platz! Nicht in dieser Stunde. Wenn einer retten kann, sind Sie es!“
„Und was meint mein Sultan?“
„Das eine Gute wenigstens hat meine Lage, daß ich für den Thron nicht in Frage komme. Wie könnte ich als ein Eingesperrter wissen, ob ich die Kraft hätte, alles durchzusetzen, was Sie für notwendig halten,
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