Der ewige Gaertner
einschließlich einer Kopie ihres unveröffentlichten Aufsatzes über die schädlichen Nebenwirkungen des Medikaments Dypraxa, wie zum Beispiel Sehstörungen, Blutungen, Blindheit und Tod, dazu einen Zettel mit Markus Lorbeers Postfachadresse in Nairobi und einen weiteren, auf dem vermerkt ist, was als Nächstes zu tun wäre – für den Fall, dass höhere Mächte einen daran hindern sollten, es selbst zu tun. Es ist ein Augenblick bewussten, sträflichen, vorsätzlichen Fehlverhaltens, und auch die Gegenwart einer schönen Frau – ein Paria wie man selbst –, die einem mit fürsorglichen Fingern den Puls fühlt, ist keine Entschuldigung dafür, dass man die grundlegendsten operativen Sicherheitsregeln über den Haufen wirft.
»Man sollte Sie nicht mit mir zusammen sehen«, protestiert er lahm. »Die wissen, dass ich in der Stadt bin. Das macht für Sie alles nur noch schlimmer.«
»Schlimmer kann es nicht mehr werden«, erwidert sie. »Ich bin am Tiefpunkt angelangt.«
»Wo steht Ihr Auto?«
»Fünf Minuten von hier. Können Sie gehen?«
Es ist auch ein Augenblick, in dem Justin sich dankbar der guten Manieren und der altmodischen Ritterlichkeit erinnert, die man ihm in Eton beigebracht hat und auf die er sich jetzt, im Zustand physischer Erschöpfung, berufen kann. Eine allein stehende Frau muss man im Dunkeln zu ihrer Kutsche begleiten, um sie vor Vagabunden, Wegelagerern und Straßenräubern zu schützen. Er steht auf. Sie fasst ihn am Ellbogen und nimmt die Hand auch nicht weg, als sie zusammen durchs Wohnzimmer zur Treppe schleichen.
»Nacht, Kinder«, ruft Amy hinter einer geschlossenen Tür. »Viel Spaß noch.«
»Ich danke Ihnen sehr«, antwortet Justin.
NEUNZEHNTES KAPITEL
S ie gehen die Treppe hinunter, Lara voran, in einer Hand die russische Einkaufstasche, die andere auf dem Geländer, den Blick über die Schulter auf Justin geheftet. Unten nimmt sie seinen Mantel vom Haken und hilft ihm hinein. Dann zieht sie ihren eigenen an, setzt eine Anna-Karenina-Pelzmütze auf und will sich seine Reisetasche umhängen, was Justins Ritterlichkeit aber nicht zulässt. Und so sieht sie mit unbewegten braunen Augen zu – Tessas Augen, nur ohne den Schalk darin –, wie er den Tragegurt über seine eigene Schulter legt und, ganz zugeknöpfter Engländer, jede Schmerzäußerung unterdrückt. Sir Justin hält die Tür für sie auf und gibt mit Flüsterstimme seiner Überraschung Ausdruck, als der eisige Wind wie ein Schwert durch den gefütterten Mantel und die Fellstiefel in seinen Körper fährt. Auf dem Bürgersteig nimmt Dr. Lara mit der linken Hand seinen linken Unterarm und legt ihm den rechten Arm um den Rücken, um ihn zu stützen, aber jetzt melden sich die gesamten Nerven in seinem Rücken zu Wort, und der hartgesottene Eton-Schüler kann nicht mehr anders und schreit auf. Lara sagt nichts, aber als er vor Schmerz den Kopf zur Seite dreht, begegnen sich ihre Blicke. Die Augen unter der Pelzmütze erinnern ihn beunruhigend an andere Augen. Die Hand, die eben noch auf seinem Rücken lag, hat sich jetzt zu der Hand gesellt, die seinen linken Unterarm umklammert hält. Lara hat ihr Tempo dem von Justin angepasst. Hüfte an Hüfte schreiten sie den vereisten Bürgersteig entlang, doch plötzlich bleibt Lara stehen und starrt, ohne seinen Arm loszulassen, auf die andere Straßenseite.
»Was ist?«
»Nichts. Das Übliche.«
Sie haben einen Platz erreicht. Ein grauer Kleinwagen undefinierbaren Typs steht allein in der Kälte unter einer gelben Laterne. Er ist stark verschmutzt. Als Radioantenne dient ein Kleiderbügel aus Draht. Das Auto hat etwas Bedrohliches und gleichzeitig Schutzloses. Es ist ein Auto, das darauf wartet, jeden Moment zu explodieren.
»Ist das Ihrer?«, fragt Justin.
»Ja. Aber er taugt nichts.«
Der große Spion bemerkt mit Verspätung, was Lara bereits entdeckt hat. Das linke Vorderrad ist platt.
»Keine Sorge. Wir wechseln den Reifen«, erklärt Justin in einer grotesken Anwandlung von Kühnheit und vergisst für einen Moment die grimmige Kälte, seinen zerschundenen Körper, die späte Stunde und auch den letzten Gedanken an operative Sicherheitsregeln.
»Das wird nichts nützen«, antwortet sie angemessen düster.
»Doch, natürlich. Wir lassen den Motor laufen. Dann können Sie solange im Warmen sitzen. Sie haben doch einen Ersatzreifen und einen Wagenheber?«
Aber inzwischen sind sie näher herangekommen, und jetzt sieht Justin, was sie schon geahnt hat: Auch der andere
Weitere Kostenlose Bücher