Der ewige Held 02 - Der Phönix im Obsidian
können.«
»Ihr meint, daß ein Großteil der Gänge nicht benutzt wird?«
Morgeg nickte. »Wir sind weniger als noch vor fünfzig Jahren. Kinder sind selten in Rowenarc dieser Tage.« Er sprach unbeteiligt, und ich hatte wieder den Eindruck, zu einem von den Toten auferstandenen Leichnam zu sprechen.
Durch das große Haupttor Haradeiks traten wir in die Kälte des Außenweges hinaus, der über der dunklen Bucht hing, wo die trägen Wellen weißes Salz über die dunklen Kristalle des Ufers breiteten. Die Landschaft wirkte noch feindseliger als zuvor, mit diesem von Wolken gebildeten Horizont und den drohend emporragenden Klippen auf allen Seiten. Ich hatte ein Gefühl der Klaustrophobie, als wir den Weg hinaufstiegen, bis wir zu einem Torbogen kamen, der sich nur wenig von dem unterschied, aus dem wir eben gekommen waren.
Morgeg legte die Hände vor den Mund und rief: »Prinz Urlik Skarsol kommt zur Audienz mit dem weltlichen Fürsten!«
Seine Stimme weckte ein gedämpftes Echo zwischen den Felsen. Ich blickte auf und versuchte, hinter den Wolken die Sonne auszumachen, aber sie war nicht zu sehen.
Es gab ein knirschendes Geräusch, als die Tür gerade eben soweit zurückglitt, daß wir uns daran vorbeidrücken konnten und in ein Vorzimmer gelangten, wo es noch weniger Licht gab als in dem düsteren Haradeik. Ein Diener in einem schlichten weißen Gewand erwartete uns. Er läutete eine silberne Glocke, und die Tür schloß sich wieder. Die Vorrichtung, mit der diese Türen bedient wurden, mußte sehr ausgeklügelt sein, denn ich entdeckte weder Rollen noch Kettenzüge.
Der Gang, den wir entlanggeführt wurden, glich genau dem in Bischof Belphigs ›Provinz‹, nur das es hier keine Reliefs gab. Statt dessen bedeckten Gemälde die Wände, aber das Licht war so schwach und die Farbe so alt, daß ich kaum Einzelheiten unterscheiden konnte. Wir bogen in einen ähnlichen Gang ein, unsere Schritte hallten trotz des teppichbelegten Bodens. Noch ein Gang, und dann erreichten wir einen Torbogen, der nicht von einer Tür verschlossen wurde. Nur ein Vorhang aus schmucklosem, weichen Leder hing davor. Ich hatte den Eindruck, daß solche Schlichtheit für Rowenarc unangemessen war, aber meine Überraschung steigerte sich noch, als der Sklave den Vorhang hob und uns in ein Zimmer geleitete, dessen Wände bis auf einen Anstrich mit weißer Farbe völlig kahl waren. Große Lampen verbreiteten helles Licht. Wahrscheinlich wurden sie mit Öl gespeist, denn sie verbreiteten einen schwachen Geruch. In der Mitte des Raumes standen ein Tisch und zwei Bänke. Außer uns war niemand anwesend.
Morgeg blickte sich um, und sein Gesichtsausdruck verriet Unbehagen.
»Ich werde Euch verlassen, Graf Urlik. Bestimmt wird der weltliche Fürst nicht lange auf sich warten lassen.«
Als Morgeg gegangen war, bedeutete mir der Diener, daß ich mich auf eine der Bänke setzen sollte. Ich tat es und legte den Helm neben mich. Der Tisch war so leer wie das Zimmer, bis auf zwei Schriftrollen, die ordentlich nebeneinander lagen. Mir blieb nichts weiter übrig, als die weißen Wände zu betrachten, den schweigenden Diener, der neben dem Torbogen Aufstellung genommen hatte, und den fast leeren Tisch.
Ich hatte ungefähr eine Stunde dort gesessen, bevor der Vorhang sich teilte und eine hochgewachsene Gestalt in das Zimmer trat. Ich stand auf, kaum fähig, den erstaunten Ausdruck zu verdrängen, der sich auf meinem Gesicht zeigen wollte. Der Mann gab mir einen Wink, mich wieder zu setzen. Er wirkte geistesabwesend, als er an den Tisch trat und sich dahinter niederließ.
»Ich bin Shanosfane«, sagte er.
Seine Hautfarbe war ein mattes, tiefes Schwarz, seine Züge waren feingeschnitten und asketisch. Mit leiser Ironie überlegte ich, daß die Rollen von Shanosfane und Belphig irgendwie vertauscht worden waren - Belphig hätte der weltliche sein müssen und Shanosfane der geistliche Fürst.
Shanosfane trug weite, weiße Gewänder. Sein einziger Schmuck war eine Schulterspange mit einem Wappen, das ich für das Zeichen seines Ranges hielt. Er legte seine schmalen Hände auf den Tisch und musterte mich mit einem abwesenden Gesichtsausdruck, der trotzdem hohe Intelligenz verriet.
»Ich bin Urlik«, erwiderte ich, da ich es für das Beste hielt, ohne Umschweife zu sprechen.
Er nickte, blickte auf die Tischplatte und zeichnete mit seinem Finger ein Dreieck auf das Holz. »Belphig sagte, daß Ihr hierzubleiben wünscht.« Seine Stimme war tief, klingend,
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