Der Experte: Thriller (German Edition)
von einem Ort, der sich seinem Zugriff entzog. Dann stand die Kellnerin neben ihm.
»Möchten Sie noch etwas?«, fragte sie.
Geigers rechter Zeigefinger begann ein Solotrommeln auf dem Tisch, als hätte er innerhalb des Hintergrundgemurmels einen Beat gefunden. Er schloss die Augen.
»Nein«, sagte er. »Nichts.«
10
Die frühmorgendlichen Abfertigungsschlangen für Touristen am Flughafen Paris-Orly waren lang. Vor Harry standen noch ein halbes Dutzend müde Reisende, während Matheson bereits den Kontrollpunkt für EU-Bürger passiert hatte, was er seinem gefälschten französischen Pass, seiner perfekten Aussprache, dem kurzen grauen Haar und einem pfeffer-und-salz-farbenen Ziegenbärtchen verdankte. Harry trug eine Reisetasche und einen abgewetzten ledernen Aktenkoffer, den er besaß, seit er als Reporter für die Times gearbeitet hatte. In ihm befanden sich sein Laptop und seine private Software – auf CDs, die als Alben der Allman Brothers, R. Kelly und Coldplay getarnt waren.
Er blickte auf den Pass in seiner Hand, der auf den Namen Thomas Jones ausgestellt war. Vor sechs Jahren hatte Geiger einen Job in Cancún angenommen – es hatte irgendwelches böses Blut im Luxusferienwohnungsgeschäft gegeben –, und für die Reise hatten sie sich über Carmine erstklassige Fälschungen besorgt. Er erinnerte sich noch, wie Carmine ihm die Dokumente reichte, ihm auf den Rücken klopfte und sagte: »Passen Sie gut auf meinen Jungen auf, Harry«, als wäre Geiger, der Mann, der den Willen von Killern und Königen brach, ein unbedarftes Bürschchen, das man nicht aus den Augen lassen durfte. Harry erinnerte sich auch noch, wie er Carmine in die harten kobaltblauen Augen gesehen und gedacht hatte: Wenn Geiger irgendwas passiert, reißt der Kerl mir die Leber raus und zwingt mich, sie zu fressen.
Die Zollbeamtin war Mitte zwanzig – blass und kerzengerade in ihrem gestärkten blauen Hemd, auf der Stirn ein kleines misstrauisches Fältchen, das herauszubilden sie eindeutig nicht viel Zeit gehabt hatte. Vielleicht bringen sie ihnen auf der Zollakademie bei, wie man so was aufsetzt, dachte Harry und reichte ihr den Pass.
Ihr Blick zuckte von seinem Bild auf sein Gesicht, dann wieder zurück.
»Monsieur Jones – was ist der Grund für Ihren Besuch in Frankreich?«, fragte sie.
»Ich möchte einen alten Freund besuchen.«
»In Paris?«
»Ja genau.«
»Für wie lange?«
Er tat, als müsste er gähnen, und warf dabei einen verstohlenen Blick auf die Überwachungskamera an der Wand hinter ihr. »Ein paar Tage. Vielleicht eine Woche.«
Ein undeutliches Quäken ertönte gleichzeitig aus mehreren Richtungen. Harry drehte den Kopf und sah am anderen Ende des Saals einen Uniformierten, der sein Funkgerät ans Ohr hob. Dann entdeckte er zwei weitere Blauhemden, die das Gleiche taten. Die Männer blickten wie auf ein Stichwort hoch – genau zu Harry – und setzten sich in seine Richtung in Bewegung. Er versuchte den Hahn abzudrehen, aus dem die Angst in ihn hineinsprudelte.
»Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, Monsieur«, forderte die Zollbeamtin ihn auf.
Harry wandte sich ihr wieder zu. Ihre Stirnfalte zuckte einmal und bewirkte, dass Harrys interne Schrauben sich von Kopf bis Fuß zuzogen.
»Bewegen Sie sich nicht, Monsieur.«
Das Trio war nur noch zwei Armeslängen entfernt, und für Harry gab es keinen Fluchtweg. Er sah, wie sie sich ihm mit wachsender Geschwindigkeit näherten. Der Größte von ihnen streifte ihn, als er an ihm vorbeiging. Harry drehte sich wieder um. Die drei Zöllner blieben an der nächsten Reihe stehen und knieten sich um eine silberhaarige alte Dame, die auf dem Boden lag. Vielleicht war sie bewusstlos geworden. Oder sie hatte den Herzinfarkt erlitten, wobei sich Harry sicher war, dass er ihm selbst bevorstand. Die Männer besprachen sich kurz, dann halfen sie der Dame sanft, sich aufzusetzen.
»Das kommt vor«, sagte die Zöllnerin. Harrys Schweiß ließ sein Hemd an seinem Rücken kleben. »Die langen Flüge … alte Leute vergessen oft, genug zu trinken. Dann haben sie einen Schwächeanfall. Kommen Sie zum ersten Mal nach Paris?«
Harry atmete durch. »Nein. Ich war schon einmal hier. Aber das ist zwanzig Jahre her.«
»Nun, Monsieur …« Sie stempelte den Pass, reichte ihn Harry und verzog die Lippen zu einem der niedlichsten Lächeln, die Harry je gesehen hatte. »Paris ist noch immer die schönste Stadt auf der ganzen Welt. Ich hoffe, Sie können die ganze Woche
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