Der Experte: Thriller (German Edition)
Abend.«
»Genau.«
Matheson ging auf den Korridor und schloss die Tür hinter sich.
Harry wandte sich wieder der Straße zu. Er war den ganzen Flug lang wach gewesen, doch er fühlte sich nicht schläfrig. Seine innere Uhr hatte sich schon umgestellt – nicht auf den Zeitunterschied, sondern auf das Bevorstehende. Harry hatte ein Bild vor Augen, das seine Leidenschaft zeigte – vor langer Zeit zerschmettert, wobei die Bruchstücke umherflogen wie Granatsplitter und sich ihm ins Fleisch gruben –, und jetzt, nach so vielen Jahren, war in seinem Zentrum ein Magnet aktiv, riss die Splitter heraus, zog sie an sich und fügte sie zusammen …
Die Concierge blickte auf ihren Computerbildschirm. »Pour une nuit?«
»Qui.« Der Franzose reichte ihr eine Kreditkarte.
»Merci, Monsieur.«
Als Matheson aus dem Aufzug ins Foyer kam und zur Vordertür ging, drehte er sich nicht zu ihm um.
»Bonne journée, Monsieur« , sagte die Concierge, doch Matheson hörte sie entweder nicht oder war zu tief in Gedanken versunken. Er ging zur Tür hinaus.
Harry beobachtete, wie Matheson das Hotel verließ und die Straße Richtung Rue de Rennes entlangging. Über ihnen glitten die Wolken in blockartigen Klumpen vorüber, und immer wieder rutschten Sonnenstrahlen hindurch und überzogen die Gebäude mit dem durchscheinenden Schimmer, der Tausende von Malern zur Stadt des Lichts gelockt hatte wie Gläubige, die nach Mekka pilgern.
11
Das Café lag an der Rue St. Jacques im Erdgeschoss eines dreistöckigen Wohnhauses, dessen hohe weiße Fensterläden dringend einen neuen Anstrich brauchten. Als Harry das letzte Mal hier gestanden hatte, war es noch eine laute, seit drei Jahrzehnten familiengeführte Bäckerei gewesen, die bekannt für ihre Croissants und Brioches war. Die getönte Schaufensterscheibe und die rote Tür waren geblieben, doch darüber hing nun ein ovales Holzschild mit der eingravierten Aufschrift COUCHANT. An seinem letzten Abend in Brooklyn war Harry auf Google Maps gegangen, hatte die Rue St. Jacques gesucht und war digital die Straße entlanggeschlendert, bis er das Geschäft gefunden hatte. Seine Französischkenntnisse waren gering, aber das Wort kannte er. Couchant bedeutete Sonnenuntergang , und er wusste, weshalb die Wahl auf diesen Namen gefallen war.
Er trat an die Scheibe in der Tür, um besser hineinblicken zu können. Ein halbes Dutzend Gäste saß an Tischen unter einer Vielzahl von Punktstrahlern, die von der hohen, mit Blech verschalten Decke hingen.
»Excusez-moi …«
Harry wandte sich zu einem Mann in Rollkragenpullover und Strickjacke um. Der Franzose hatte eine geduldige Augenbraue hochgezogen.
»Entre vous?«
Harry war sich einen Moment unschlüssig.
»Oui«, sagte er dann.
Der Franzose machte eine elegante Bewegung, die »Nach Ihnen« bedeutete. Harry drehte den Knauf – und als er die Tür öffnete, erklang der liebliche, klare Ton einer Glocke. Er ging hinein.
In der Luft hing der Geruch von starkem, aromatischem Kaffee, der so verführerisch war wie Kalypso. Umbautricks hatten zusätzlichen Raum geschaffen, ohne das Lokal tatsächlich zu erweitern. Fünfzehn kleine Tische gab es. Sie hatten Platten aus beigefarbenem Granit und Bistrofüße im Stil des Art déco. Der Fußboden bestand aus dunklem Schiefer, die Wände waren altmodisch vertäfelt. Links stand eine Theke aus Mahagoni mit Hockern aus Leder und Messing, und Miles Davis überdeckte alles mit einer honigsüßen Schallglasur. Alles in allem fühlte man sich so sehr als Zeitreisender, wie es nur ging. Die Ansicht des Besitzers war klar: Wenn man nach Kaffee und einigen Augenblicken des Friedens suchte oder auch nach einem stärkeren Getränk und einem Zustand, der sich dem Vergessen mehr annäherte, war die Vergangenheit der Gegenwart vorzuziehen.
Harry setzte sich an die Theke. Der Barista und die Kellnerin – beide Mitte zwanzig, schlank und gutaussehend in schwarzen Oberhemden und grauen Hosen – standen an der großen Espressomaschine mit drei Hähnen. Die Kellnerin drückte einen weißen quadratischen Knopf, und sie warteten. Die Maschine begann unheilvoll zu grummeln, dann gab sie ein feuchtes Rülpsen von sich und verstummte. Die beiden blickten einander stirnrunzelnd an, dann bemerkten sie Harry. Der Barista kam zu ihm.
»Bonjour, Monsieur.«
»Caffe crème, bitte.«
»Tres bon.« Der Barista drehte sich um und goss Kaffee in eine große Tasse. »Woher in Amerika kommen Sie? New
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