Der Experte: Thriller (German Edition)
Anruf.
»Hi«, meldete sich Dewey.
»Wo sind Sie jetzt, Dewey?«
»Notre-Dame.« Er sprach es aus wie das Footballteam. »Matheson ist ein Weile drin gewesen, und jetzt läuft er außen rum. Davor war er in einem großen McDonald’s auf dem Boulevard Saint Germain, dann ist er eine Weile am Fluss entlanggelaufen.«
»Dieser zweite Mann scheint wichtig zu sein. Fürs Erste bleibe ich an ihm dran, und Sie halten sich an Matheson.«
»Verstanden. Sagen Sie mal … Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Victor?«
»Ja.«
»Wo wir es doch jetzt mit zwei Kerlen zu tun haben. Sollten wir nicht …? Sie wissen schon … Finden Sie nicht, wir sollten dafür mehr Geld kriegen?«
»Vielleicht sollten Sie das ansprechen.«
»Na ja … Ich dachte, weil wir doch Partner sind und Sie länger dabei, da sollten Sie es vielleicht lieber ansprechen.«
»Dewey, ich habe schon mit vielen Leuten zusammengearbeitet, aber ich hatte nie einen Partner.«
Einige Sekunden lang blieb es in der Leitung still. »Okay. Gut – ich hab kapiert.«
»Sie sollten sich selbst überlegen, wie Sie damit umgehen wollen. Verstehen Sie?«
»Hab verstanden. Bis später.«
Dewey legte auf. Der Franzose zog ein letztes Mal an seiner Gitanes Brunes und drückte die Zigarette aus. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte sein Vater ihm bei einer Flasche Merlot gesagt, dass das Leben für einen, wenn man lange genug lebte, eine überraschende Art umgekehrter Weisheit bereithalte: Man erkenne, wie wenige Wahrheiten es auf der Welt tatsächlich gab. Der Sohn war nun so alt wie damals der Vater und zum gleichen Ergebnis gelangt – die Liste war kurz:
– Wein ist das Einzige im Leben, was mit dem Alter besser wird.
– Schlaue Menschen sind nie so schlau, wie sie glauben.
– Niemand, der bei Verstand ist, stirbt ohne Reue.
– Ein Job war immer einfacher, wenn er allein arbeiten konnte.
Christine streckte das Gesicht der Sonne entgegen und schloss die Augen. Sie so zu sehen, weckte einen tiefen Schmerz in Harry. Früher hatte er sie oft im Bett betrachtet, während sie schlief. Etwas an der Ruhe in ihrem Gesicht zog ihn in den Bann.
»Papa ist vor acht Jahren gestorben«, sagte sie, »und ich habe aus der Bäckerei ein Café gemacht. Es gibt tausend Dinge zu tun, und ich habe ganz bewusst nur ein kleines Team, sodass mir kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Ich stehe um fünf Uhr auf und arbeite bis elf, dann gehe ich nach Hause und setze mich mit einem Buch und einem Glas Wein hin, und wenn mir die Augen zufallen, gehe ich schlafen. Ich sorge dafür, dass ich niemals Zeit habe, einfach nur nachzudenken.« Sie öffnete die Augen. »So gehe ich damit um, Harry.«
Er sah sie vor sich, wie sie allein am Ende des Krankenhausflurs stand, dessen kalte Weiße sie aussehen ließ wie ein verstoßenes Kind auf einer einsamen Winterstraße. Sie hatte ihn dort gespürt und den Kopf gehoben, um ihn anzusehen, aber sie war nicht zu ihm gegangen. Ihre Reglosigkeit war ein bipolarer Magnet gewesen – er hatte ihn angezogen und zugleich abgestoßen und ihn von der Möglichkeit ferngehalten, etwas Entsetzliches zu äußern, eine nackte, unerträgliche, vernichtende Tatsache …
»Aber du hast das Café Couchant genannt«, sagte er. »Nicht gerade die beste Art, eine Erinnerung zu begraben.«
»Nein, ich habe sie nie begraben. Sie ist immer in meinem Herzen. Ich versuche nur, sie von meinem Kopf fernzuhalten.«
»Plus facile a dire qu’a faine« , sagte Harry leise und unsicher.
Christine grinste. »›Leichter gesagt als getan‹ hieße C’est plus facile a dire qu’a faire.«
»Was habe ich gesagt?«
»Du sagtest: ›Leichter gesagt als Buchecker ‹, oder so ähnlich.« Ihre Augen glommen plötzlich auf. »Du warst immer so süß, wenn du versucht hast, Französisch zu reden.« Ihr Handy klingelte, und Christine warf einen dankbaren Blick darauf. Sie nahm das Gespräch an. »Oui?« Sie horchte und stand auf. »Harry, ich muss gehen. Der Techniker …«
Harry erhob sich ebenfalls. »Ich begleite dich.«
»Vielleicht solltest du das lassen, Harry. Vielleicht sollten wir uns jetzt einfach verabschieden.«
»Das könnten wir – oder ich könnte wiederkommen und in der Ecke sitzen und Zeitung lesen bis sieben oder so, und du könntest mit mir essen – dann könnten wir uns verabschieden.«
Sie war ihm immer jünger erschienen, wenn sie eine schwierige Entscheidung zu treffen versuchte. Die Schultern gesenkt, den Kopf zur Seite geneigt, die
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