Der Experte: Thriller (German Edition)
verängstigt. Geiger hatte daraufhin Hall niedergeschlagen und den Jungen mit nach Hause genommen – den ersten Menschen, der je mit ihm den Raum teilte.
Ezras Melancholie und Offenheit und sein wachsendes Vertrauen hatten wie ein Stemmeisen gewirkt, das an einem Riss in Geigers Schale angesetzt worden war, um sie langsam aufzuhebeln. Beide hatten sie einen Hunger nach Musik und das Bedürfnis nach kargen, einsamen Orten, und schließlich wurden sie zu Weggefährten auf einer Reise der Gewalt und des Todes, die am nächsten Abend gegen zehn Uhr in einem verzweifelten Handgemenge unter der Flussoberfläche endete.
In den kommenden Monaten war Geiger der Verdacht gekommen, dass er mit der Rettung des Jungen unbewusst versucht hatte, sich selbst zu retten – das Kind, das in ihm vergraben lag, wiederzuerwecken, damit er genesen und sich ändern konnte –, und er war zu der Erkenntnis gelangt, dass in gewisser Hinsicht Ezra ihn gerettet hatte. Insofern waren sie untrennbar verbunden – und Geiger brauchte überhaupt keine Entscheidung zu treffen.
Er beugte sich über den Laptop und ging zu Google Maps, gab »Hotel Maroq, Paris, Frankreich« ein und änderte die Sicht von »Karte« auf »Satellit«. Langsam zoomte er näher, als wäre er ein Pilot, der zur Landung auf dem Hoteldach ansetzte. Sobald er das Gebäude betreten hatte, würden Augen vor Ort sein, die ihn beobachteten, sobald er wieder herauskam – an der Straßenecke oder in einem geparkten Auto oder einem Zimmer in dem Hotel auf der anderen Straßenseite, aus dessen Fenster man das Foyer des Maroqs einsehen konnte. Vielleicht würde es einer von Daltons Leuten sein oder einer von Soames’, wahrscheinlich beides, und er würde Gesellschaft haben, wohin immer er ging.
Er stoppte den Zoom über dem Hoteldach, das flach war und das Licht nicht reflektierte – vermutlich Teer oder Beton, was sich für seine Pläne perfekt eignete. Die Gebäude rechts und links waren von dem Hotel durch Gassen getrennt, deren Breite Geiger auf zweieinhalb Meter schätzte. Irgendwie würde er diese Abgründe überwinden müssen. Anlauf zu nehmen und dann zu springen war eine Möglichkeit, aber für seine Hüften konnte sich die Belastung als problematisch erweisen.
Er rief iTunes auf und wählte Ravels Bolero aus. Das Fundament aus einer sauberen, repetitiven Melodie, in die jedes Mal, wenn das Motiv gespielt war, ein neues Instrument einfiel, würde ihm helfen – eine förderliche Untermalung für den Entwurf eines Planes, den er Schicht für Schicht aufbauen würde. Er hatte vor langer Zeit gelernt, geistig in die Musik hineinzugleiten – den Schwall der Noten wie farbigen Regen auf einem See zu sehen, bei dem sich nach jedem Aufprall eines Tropfens Kreise über die Oberfläche ausbreiteten, die einander trafen und sich miteinander vermengten, wodurch Orange und Blau und Grün zu Purpur und Violett und Braun wurden. Er würde dort auf dem regenbogenfarbenen Wasser treiben oder auf den Grund hinabsinken.
Er ging zu dem Wandschrank, und als er eintrat, zwängte sich die Flöte mit ihm hinein. Er zog die Tür zu und nahm seine Position in der Dunkelheit ein, ein fötenhaftes Zusammenkrümmen auf dem kühlen Boden. Die Rührtrommel tönte aus den Lautsprechern und erschuf ein Fundament. Konzentration war entscheidend. So viele Elemente verwoben sich zu einem Ganzen. Er schloss die Augen. Beim dritten Durchgang fiel das Fagott in die Melodie ein – tiefblaue, minzkühle Bahnen wuschen durch Geigers Gehirn. Es würde wie das Komponieren einer Symphonie sein.
14
Geiger zog sich die Baseballmütze tief in die Stirn. Er trug nie Kopfbedeckungen, aber auf dem Columbus Circle war er an einem Straßenhändler vorbeigekommen und hatte entschieden, dass ein wenig Tarnung nicht schaden könne. Mit einem Taxi war er über die Manhattan Bridge gefahren und hatte danach zweimal die U-Bahn-Linie gewechselt. Er bezweifelte nicht, dass im Moment kein einziger Mensch auf der ganzen Welt wusste, wo er sich befand – in einer Straße in der Upper West Side auf einem schmalen Stück Land zwischen einer Mauer und einem Spitzahorn, vor den Blicken anderer geschützt, aber mit weitem Sichtfeld.
Der Morgen hatte die 75th Street in Beschlag genommen. Wie Kriegsgefangene wurden kleine Kinder aus den Haustüren zu einem Konvoi wartender Schulbusse geführt. Farbige Frauen in redseligen Trupps aus drei oder vier Personen suchten sich einen Weg zu den Apartments, die sie reinigen
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