Der Experte: Thriller (German Edition)
Dachsims seines Hotels lag. Sobald er wieder in seinem Zimmer war, würde er sich als Erstes duschen und versuchen, seinen Nacken aus der Starre zu lösen.
Auf Händen und Knien begann er, die Leiter zu überqueren, Sprosse für Sprosse. Mit der rechten Hand fassen, das linke Bein bewegen, mit der linken Hand fassen, das rechte Bein bewegen … Bei jedem Schritt gab die Leiter ein wenig nach, bog sich am Punkt des Drucks um einen Zentimeter. Er musste hinunterblicken, während er kroch – sein Nacken war zu steif, als dass er den Kopf heben und nach vorn schauen konnte –, und in die Gasse tief unter sich zu starren, bewirkte winzige Krümmungen seiner Sicht, leichte, schwindelerregende Flattererscheinungen. Er überlegte, ob er lieber versuchen sollte, die Überquerung des Abgrunds hinter sich zu bringen, ehe die Symptome schlimmer wurden, oder ob er besser innehielt, um zu warten, ob sie weggingen.
Er hielt inne.
Geiger schloss die Augen, und grauschwarze Strudel wirbelten auf den Innenseiten seiner Lider – also riss er sie wieder auf. Ihm wurde bewusst, wie fest er sich an die Sprosse klammerte, er bemerkte das heftige Pochen seines Pulses in seinen Händen und das kurzzeitige, stoßartige Zittern seiner Unterarme.
Die Luft, die seinen Körper umschloss wie eine zweite Haut … der saubere Nachgeschmack der Tomatentarte in seinem Mund … das Säuseln des Atems in den Nasenlöchern … plötzlich lautes Meeresrauschen in seinen Ohren. Seine Sinne übernahmen, schalteten seinen Autopiloten aus und teilten ihm mit, dass dieser Balanceakt nur Teil eines viel größeren war … Ein Mann auf einem Drahtseil, der mit Zweifel, Trauer und Scham jonglierte.
Er atmete durch den Mund tief ein und aus, immer wieder, als pumpte er einen platten Reifen auf, und schob sich voran. Mit der rechten Hand fassen, das linke Bein vorziehen, linke Hand, rechtes Bein … bis er die harte, kühle, ebene Fläche des Simses unter den Händen spürte. Er kroch weiter und ließ sein Blut zur Ruhe kommen, dann zog er die Leiter herüber, schob sie wieder zu dem kompakten Quadrat zusammen und schleuderte sie hinüber aufs andere Dach. Er setzte sich, nahm eine Rolle Klebeband aus seiner Tasche und umwickelte damit seine Schuhe, die klebrige Seite nach außen. Als er fertig war, machte er das Gleiche mit den Händen. Er stand auf, stellte sich vor das ansteigende Dach, beugte sich vor und legte die umwickelten Handflächen zum Test auf das Blech. Das Klebeband würde ihn ein wenig unterstützen. Dann begann er – linke Hand, rechter Fuß, rechte Hand, linker Fuß – den Aufstieg zum First.
Das Wasser war ausreichend kalt. Idealerweise hätte sich der Strahl der Dusche bei dieser Temperatur angefühlt wie Nadeln, die in seine Haut stachen, in die Nervenenden einschlugen, Löcher in den Schmerz bohrten – aber der Druck war zu gering, und er musste länger stehen bleiben, als er wollte, und sich mit einer provisorischen Betäubung begnügen. Er drehte den Hahn zu und verließ die Kabine. Abtrocknen würde er sich nicht, damit die Kälte möglichst lange anhielt.
In einem pseudoantiken Rahmen hing ein Ganzkörperspiegel an der gegenüberliegenden Wand – und die Spuren des 4. Juli sprangen ihn noch immer an. Die sternförmige Narbe, die das zerrissene Fleisch in seiner Brust wieder verband. Daltons krakeliges Trio auf seinem Quadrizeps.
Sie anzusehen war anders, als die ausladenden Muster auf den Rückseiten seiner Oberschenkel und Waden zu betrachten. Diese Struktur, der Beweis für die Methodik und den Wahnsinn seines Vaters, hatte immer zu ihm gehört; diese Narben waren Embleme seiner Vergangenheit – die anderen Wunden jedoch bewiesen, dass die Welt ihn gefunden hatte, und nun hatte er auch noch eine formelle Einladung erhalten. Dalton mochte der Zeremonienmeister sein, doch das Schicksal war es, das die Party gab – und Geiger war der Ehrengast, der die Einladung nicht zu beantworten brauchte, sondern nach Belieben erscheinen konnte.
Durch die Vorhänge in Zimmer 404 abgeschirmt, nahm Geiger eine zweite Fotoserie aus Weitwinkel- und Nahaufnahmen der Parksituation auf der Straße auf. Dann setzte er sich mit dem iPad an den Schreibtisch, schloss die Kamera an und verglich die beiden Serien. Seit der ersten Dokumentation waren über vier Stunden verstrichen. Er löschte alle Fahrzeuge, die nicht in beiden enthalten waren. Neun blieben übrig – fünf Pkw, zwei Firmentransporter und zwei Motorroller. Geiger
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