Der Facebook-Killer: Thriller (German Edition)
noch wenige Jahre vor der Pensionierung stand.
Zum ersten Mal im Leben hatte er sich fallen lassen können, er hatte die Zeit mit Marie-Ange über alle Maßen genossen und ihr in allen Bereichen des Lebens blind vertraut – was für ihn nicht selbstverständlich war, denn er hatte früh gelernt, niemanden zu nahe an sich heran zu lassen. Nicht, dass sie etwas Konkretes über sein Vorleben gewusst hätte. Sie hatte oft versucht, zu diesem Thema mehr zu erfahren, war das eine oder andere Mal regelrecht in ihn gedrungen, aber er hatte einfach nicht darüber sprechen können. Doch Marie-Ange hatte viel Verständnis für ihn gehabt, und oft hatten sie nächtelang auf der Couch gesessen oder im Bett gelegen, und sie hatte ihm einfach nur zugehört, ihn in den Arm genommen oder versucht, ihm mit Ratschlägen zu helfen. Er hatte sich oft in den Schlaf geweint in diesen Jahren. Sie hatte ihn zu einer Therapie gedrängt … und irgendwann hatte er keinen mehr hochgekriegt.
Was er ihr nicht hatte sagen können: Im Alter von sechs Jahren hatte er von seinem Vater die erste brutale Tracht Prügel bekommen, an die er sich erinnern konnte. Für eine Nichtigkeit. Mit einem Kochlöffel. Seine Eltern waren streng religiös gewesen, vor allem seine Mutter, und hatten dies auch in seine Erziehung mit einfließen lassen. Mehr noch, oft hatten sie ihm die Religion regelrecht eingetrichtert. Aber seine Mutter hatte es wenigstens bei stundelangen Tiraden, Ermahnungen und Schelte belassen. Handgreiflich war immer nur sein Vater geworden.
Sein Vater hatte oft zu viel getrunken und war dann immer ausfällig geworden, nicht nur ihm, sondern auch seiner geliebten Mutter gegenüber. Hatte sie beschimpft und gedemütigt. Im Suff war ein Hass auf die Welt aus ihm herausgebrochen, der ganz sicher nicht gottgefällig gewesen war. Ihn hatte er dann häufig mit einem Stock oder seinem Gürtel verprügelt, und so hatte er ein zwiespältiges Verhältnis zur Religion entwickelt. Sie war ihm als Knabe Trost und Schreckensbild zugleich gewesen. So vieles hatte er nicht begriffen, damals … Wie konnte man Nächstenliebe predigen und gleichzeitig seine Nächsten schlagen? Wie konnte einer so hassen, der an Jesus zu glauben behauptete, der doch die Liebe in Verkörperung war, wie seine Mutter immer sagte? Und wenn Gott ein lieber Gott war, wie man es ihm im Kindergottesdienst einzureden versuchte, warum ließ er dann zu, dass der Vater ihn für nichts und wieder nichts ungestraft grün und blau schlug?
Er verstand oft die Welt nicht mehr und baute sich eine eigene Traumwelt, in die er sich immer häufiger zurückzog. Dort gab es Engel und mutige Krieger und alle Gestalten aus den Märchen, die er im Kindergarten erzählt bekommen hatte. Dort traf er auch Gott, den er sich gemäß der Erzählungen der Mutter als unsagbar alten Mann mit weißem Rauschebart vorstellte, und redete auf seine kindliche Art viel und lange mit ihm. Er liebte und er hasste Gott, er liebte und er hasste seinen Vater. Er liebte seine Mutter. Er hatte Marie-Ange geliebt, vom ersten Blick auf dem Schulhof an. Marie-Ange. Ange. Engel. Sein Engel, seine Engel-Frau.
Seinen Freunden gegenüber versuchte er, all dies zu verheimlichen, und er hatte niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Also schloss er es ganz tief in sich ein. So tief, dass er es später nicht einmal für Gespräche mit Marie-Ange wieder hervorholen konnte. Seine Mutter hatte meist geschwiegen und versucht, ihr Unglück zu verdrängen. Was hätte sie auch tun sollen? Glück, das war für die anderen. Ihm war das Verhalten seines Vaters peinlich gewesen, und obwohl auch er der Leidtragende gewesen war, hatte er sich seiner Mutter und seinen Freunden gegenüber geschämt.
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