Der Fälscher aus dem Jenseits
Zeitarbeitsagenturen ab. Es wurde Winter, die Tage wurden kürzer und die Ängste blieben. Eines Tages traf ein Brief mit unbekannter Schrift ein. Nachdem Joël ihn gelesen hatte, rief er Marguerite zu: »Was denkst du, wer uns geschrieben hat? Gustave Lafont, unser Nachbar auf der Insel Oléron.«
»Tatsächlich? Was will er denn?«, fragte Marguerite etwas misstrauisch.
»Halt dich fest. Vielleicht hätte er einen Job für mich.« Wenn es um eine Arbeitsstelle ging, verwendete Joël seit einiger Zeit nur noch den Begriff »vielleicht« und alle Verben nur noch in der Möglichkeitsform.
Lafont schrieb, dass er froh sei, sich die Adresse der Menardiers notiert zu haben. Er verriet ihnen, dass er für eine große Gesellschaft arbeitete, die in Ostfrankreich Leiter für Fortbildungszentren einstellte. Er benötige dringend einen zweiten Mann und glaube, dass Joël genau der Richtige sei. Falls er noch immer auf Stellensuche sei und die Arbeit und die Bedingungen ihm zusagten, würde Gustave die Menardiers besuchen und ihnen ausführlich erklären, worum es ging. Joël, von neuer Hoffnung erfüllt, antwortete ihm umgehend. Drei Tage später schrieb ihnen Lafont, dass er an dem und dem Tag um achtzehn Uhr fünfzig am Bahnhof Forbach ankäme. Und ob Joël ihn abholen könne, was dieser dann natürlich auch gerne versprach. Als Gustave aus dem Zug gestiegen war — statt Sommershorts trug er heute einen Tweedanzug guter Qualität —, erklärte er Joël, dass er mehrere Tage in der Gegend bleiben müsse. Dann, im Rausch der Wiedersehensfreude, stellte er Joël in vertraulichem Ton die Frage, ob es möglich sei, da er nur über ein bescheidenes Tagesbudget verfüge, während dieser kurzen Zeit bei den Menardiers zu wohnen. Natürlich nur, wenn es Marguerite recht sei. Dadurch würden die Menardiers einen Teil seiner Spesen erhalten. Joël überlegte kurz und war einverstanden.
Nach achtundvierzig Stunden bot Gustave, den die Menardiers bereits als ihren Retter betrachteten, Joël, dem er seine Pläne inzwischen erklärt hatte, an, ihn auf einer Einstellungstour zu begleiten. Sie suchten also verschiedene Jugendzentren und Arbeitsvermittlungsstellen auf und lernten junge arbeitslose Menschen kennen. Gustave, der sein Geschäft beherrschte, stellte den jungen Leuten Fragen über ihre vorherigen Stellen. Jeder schien Lafont recht zu sein, um ihn in seine Gruppe von Leitern aufzunehmen. Doch unbewusst war Joël etwas erstaunt, denn Gustave verlangte von jedem Jugendlichen, für den er Interesse bekundete, eine Gebühr von zweihundertfünfzig Franc (etwa zweiundvierzig Euro) für das Anlegen seiner Akte. Dieser Betrag sollte möglichst in bar entrichtet werden. Nach Aufnahme der Arbeit bekäme der junge Mann ihn selbstverständlich zurückerstattet.
Dann kehrten die beiden Männer nach Hause zurück. Die Dinge schienen sich jedoch etwas in die Länge zu ziehen. Gustave, der ursprünglich nur ein paar Tage bleiben wollte, nahm jetzt bereits seit drei Wochen das Gästezimmer in Beschlag. Er behauptete zudem, er lebe in Scheidung, was die Dinge komplizierte. Er war auch knapp bei Kasse, sodass Marguerite ihren Notgroschen angriff, um ihm zu helfen. Gustave erteilte ihr im Gegenzug Ratschläge über Kindererziehung und erklärte ihr die beste Methode, mit dem kleinen Renaud, dem behinderten Kind, umzugehen. Die versprochene Verbesserung der Lebenssituation der Familie ließ allerdings auf sich warten.
Eines Morgens verkündete Gustave, dass er nach Nancy fahren müsse und dabei ein paar Einkäufe in einem Supermarkt erledigen wolle, um den Kühlschrank der Familie aufzufüllen. Danach wurde er nie wieder gesehen.
Joël, der anfangs etwas erstaunt war, prüfte jetzt, wenn auch etwas zu spät, all das, was Lafont ihm versprochen hatte. Dabei erlebte er eine Enttäuschung nach der anderen. Die ganze wunderbare Geschichte von den »Leitern« war ein Ammenmärchen. Lafont hatte nie auch nur einen Moment in der Firma gearbeitet, als deren leitender Angestellter er sich ausgegeben hatte. Er hatte sich lediglich dieses Tricks bedient, um sich Eingang in die Familien von arbeitslosen jungen Leuten zu verschaffen, die bereit waren, alles zu glauben, und denen er für fiktive Akten zweihundertfünfzig Franc abnahm. Dieses Mal hatte er es sogar auf die Spitze getrieben, indem er beim Nachbarn der Menardiers tausend Franc (etwa einhundertsiebzig Euro) geliehen hatte. Im nächsten Jahr würde sich die Familie keine Ferien mehr leisten
Weitere Kostenlose Bücher