Der Fälscher aus dem Jenseits
können.
Die Stavisky-Affäre
Trotz der Dunkelheit und des Schnees raste der Wagen mit hoher Geschwindigkeit über die Nationalstraße 6 von Paris in Richtung Süden. Der Mann neben dem Fahrer war Anfang vierzig. Er besaß viel Charme, war schlank und hatte ein glattes Gesicht mit schwarzen, lebhaften Augen und einem ausdrucksvollen Mund. Er wandte sich an den Fahrer: »Schneller!«
»Ich tu, was ich kann, aber wir haben Glatteis.«
Die Straße war tatsächlich vereist, sodass kaum jemand unterwegs war. Außerdem war heute Heiligabend, der 24. Dezember 1933. Um sich unter diesen Umständen ans Steuer zu setzen, musste man schon einen dringenden Grund haben.
Und der Grund dafür war einfach. Vor ein paar Stunden hatte die Polizei einen Haftbefehl gegen den Flüchtling ausgestellt: »Gesucht wird Stavisky, Sacha, genannt Alexandre, Serge, geboren am 20. November 1886 in Slobodka (Russland). Dieses Individuum vordringlich suchen. Alle zweckdienlichen Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen können, sofort dem Chef der Kriminalpolizei melden.«
Für Stavisky, der sich seit mehreren Jahren Serge Alexandre nannte, war die Lage kritisch. Im Moment gab es nur eine Lösung: sich zu verstecken. Später konnte er sich immer noch etwas einfallen lassen. Dabei vertraute er auf seinen Freund René Pigaglio, der auf die Idee gekommen war, ihn nach Servoz in Savoyen zu fahren und in den Gebäuden einer Ferienkolonie, die um diese Jahreszeit leer stand, unterzubringen.
Doch die Straße war zu sehr vereist. Die beiden Männer mussten ihren Wagen stehen lassen und den Zug nehmen. Als sie in Servoz eintrafen, gab es ein weiteres Problem. Die Ferienkolonie war wegen der Kälte unbewohnbar. Also mussten sie ein Haus mieten. Eine Frau aus dem Dorf, Madame Dussay, besaß ein leeres Chalet, »Les Argentières«, das sie über die Feiertage vermieten wollte.
Pigaglio handelte alles aus. Unterdessen zeigte sich Stavisky nicht. Er betrat das Haus erst, als alles abgemacht war, und schloss sich gleich in einem Zimmer ein. Mit der Hausbesitzerin war abgesprochen, dass ihr Gärtner alle Mahlzeiten vorbereiten und sie dann auf einen Tisch stellen sollte, ohne jemanden zu stören. Diese etwas auffällige Vorsichtsmaßnahme war angesichts der von der Polizei eingeleiteten Suche verständlich. Im selben Moment wurden nämlich alle Grenzen, Häfen und Flughäfen überwacht. In ganz Frankreich beteiligten sich mehrere tausend Gendarmen und Polizisten an der Fahndung. Diese Geschichte war nämlich schlimm, sehr schlimm. Sie war schon fast zu einer Staatsaffäre ausgeartet.
Alexandre Stavisky war der Sohn eines russischen Juden, der wegen der vielen Pogrome seine Heimat verlassen und 1900 die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Schon in seiner Jugend zeigte sich seine Veranlagung zur Unehrlichkeit. Da sein Vater Zahnarzt war, begann er damit, ihm das Gold für die Zahnprothesen zu stehlen. Mit siebzehn Jahren ging er vom Gymnasium ab und schlug sich als Gigolo bei Damen reiferen Alters durch.
1908, also mit zweiundzwanzig Jahren, gelang dem jungen Alexandre der erste große Coup. Dabei war sein Großvater Abraham Stavisky, nach dem er wahrscheinlich kam, sein Komplize. Die beiden mieteten für den ganzen August das Theater Folies-Marigny. Dann stellten sie gegen Zahlung einer Kaution eine Menge Personal ein: Künstler, Maschinisten, Platzanweiserinnen usw. Anschließend tauchten sie mit 12000 Franc unter.
Der Schwindel flog auf. Alexandre kam 1912 vors Gericht. Sein Großvater war inzwischen gestorben. Zum Rechtsanwalt nahm er sich Albert Clemenceau, den Bruder von Georges Clemenceau. Von Anfang an besaß er nämlich das richtige Gespür und suchte die Unterstützung politischer Kreise, um der Strafverfolgung zu entgehen. Im vorliegenden Fall war diese Methode von Erfolg gekrönt, weil er nur zu zwei Wochen Gefängnis auf Bewährung und 25 Franc Strafe verurteilt wurde. Verglichen mit den 12 000 Franc, die er kassiert hatte, war das keine besonders abschreckende Maßnahme.
Dann kam der Krieg. Stavisky wurde eingezogen, aber schon im Januar 1915 gelang es ihm, sich ausmustern zu lassen. Da er einer kämpfenden Einheit angehört hatte, kam er automatisch in den Genuss eines Straferlasses. Während sich die anderen an der Front massakrieren ließen, nahm er mit einem blütenweißen Strafregister mehrere einträgliche Geschäfte in Angriff: Scheckbetrug, Hehlerei, Drogenhandel, geheime Spielhöllen und Betrug unter
Weitere Kostenlose Bücher