Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Kalksteinquader als Ecksteine für ihre Ziegenställe geholt hatten. Der Alabasterboden des Thronraums war aufgequollen, der Thron des Königs Minos und das Waschbecken der Ariadne waren mit Ziegenkot verschmiert. Die kostbaren Mörtelreste an den Ruinen hatten sich im Dauerregen aufgelöst und waren ins Erdreich gesunken, und viele Mauern, die jahrtausendelang im Schutz des Erdreichs geruht hatten, waren ausgewaschen, unterspült und zum Einsturz gebracht worden.
Arthur Evans und Emile Gilliéron sahen ihr Werk von der Zerstörung bedroht. Sie mussten handeln, den Palast so rasch als möglich mit einem Dach schützen. In aller Eile ließ Evans die verkohlten Überreste der viertausend Jahre alten hölzernen Stützpfeiler durch neue Tragsäulen aus Holz und Gips ersetzen, an den Eckpunkten ließ er auf die alten Fundamente moderne Pfeiler aus Backstein mauern, auf die ein modernes Flachdach aus Beton zu liegen kam. Und als das erledigt war, ließ er einen Schlosser aus Candia herbeirufen, der die ganze Anlage mit einem jener schmiedeeisernen Gitter umfasste, wie sie auf Kreta bei muslimischen Schreinen üblich waren.
Der Thronraum war nun zweckmäßig vor Unwettern, Paarhufern und Bauern geschützt, aber unter dem nackten Betondach wurde es bei Sonnenschein höllisch heiß. Kam hinzu, dass der Palast des Königs Minos in seiner erneuerten Gestalt – mit dem muslimischen Gitter, den Backsteinpfeilern und dem Flachdach – nicht die geringste Ähnlichkeit hatte mit einer minoischen Palastanlage, wie Arthur Evans sie sich vorstellte.
Um die Hitze fernzuhalten, ließ er im vierten Jahr, als schon der größte Teil des Palasts ausgegraben war, auf dem Flachdach ein erheblich größeres Satteldach aus roten Ziegeln und importierten Stahlträgern erstellen. So entstand über dem Thronraum ein Obergeschoss, das während der Ausgrabungsmonate zur Lagerung neuer Funde und gleichzeitig als provisorischer Museumsraum diente. In einer Ecke stellte Emile junior seinen Zeichentisch auf und fertigte nach Skizzen des Vaters für Arthur Evans minoische Aquarelle und Tuschzeichnungen an.
In seiner Erscheinung aber glich das Satteldach eher einem nordeuropäischen Heuschober als einer neolithisch-mediterranen Königsresidenz. Man kann sich vorstellen, wie Arthur Evans an einem Sommerabend mit Vater und Sohn Gilliéron bei einer Flasche Wein unter einem Olivenbaum am Tisch saß und unzufrieden das Bauwerk betrachtete.
Ich kann den Palast von Knossos nicht sehen, sagte Evans. Sehen Sie ihn?
Er steht vor uns, sagte Emile Gilliéron senior.
Aber ich sehe ihn nicht, sagte Evans, ich sehe nur ein Ziegeldach. Unsere Anlage ist ein Witz. Wir verstecken alles Minoische unter einem weithin sichtbaren Dach, das nichts Minoisches hat. Wieso haben wir kein minoisches Dach gebaut?
Weil wir keine Ahnung haben, wie minoische Dächer ausgesehen haben, sagte Vater Gilliéron. Wir haben auf der gesamten Anlage kein minoisches Dach ausgegraben, übrigens auch kein Obergeschoss und kein Erdgeschoss. Nur Grundmauern.
Immerhin sind die Grundmauern dick, sagte Evans. Wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass der Palast drei oder vier Stockwerke hatte.
Aber wir wissen nicht, wie diese Stockwerke aussahen, sagte Gilliéron. Von den Dächern ganz zu schweigen. Neben dem Thronsaal könnte es eine breite überdachte Freitreppe gegeben haben, darauf weisen die steil ansteigenden Fundamente hin. Das ist aber auch alles, mehr können wir nicht wissen.
Emile junior, der unterdessen zwanzig Jahre alt geworden war, saß still daneben und hörte den Männern zu. Arthur Evans sah, dass er mit der rechten Hand aufs Papiertischtuch zeichnete.
Wir sind aber doch nicht ganz ahnungslos, sagte Evans. Wir haben Abbildungen von minoischen Bauwerken. Auf Fresken. Auf Vasen. Auf Münzen.
Und ich habe hier einen amerikanischen Eindollarschein, sagte Gilliéron. Muss ich deshalb davon ausgehen, dass zur Zeit Abraham Lincolns alle Amerikaner unter säulengestützten Marmorkuppeln wohnten?
Dieses Ziegeldach erzählt keine Geschichte, sagte Evans. Noch nicht mal die falsche.
Keine Geschichte ist aus wissenschaftlicher Sicht besser als eine falsche Geschichte, sagte Gilliéron.
Wie Sie wissen, bin ich gegenteiliger Ansicht, sagte Evans. Wie beim Stierkampf-Fresko.
Das lässt sich nicht vergleichen, sagte Gilliéron. Ein bisschen Flunkerei bei einem Fresko ist eine Sache. Eine ganz andere Sache ist es, mit dem Betonmischer aufzufahren und
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