Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
aber die Mutter in ihren nächsten Briefen nichts über den Finger verlauten ließ und Felix sich danach erkundigen musste, dauerte es einen Monat, bis die Auskunft eintraf.
Einmal schrieb Heisenberg aus Leipzig, einmal Niels Bohr aus Kopenhagen. Immer häufiger aber trafen Briefe von Verwandten ein, die nach Amerika auswandern wollten und sich von Felix Rat erbaten. Seine Großmutter mütterlicherseits schrieb ihm aus Wien und wollte wissen, ob man zwei siebzehnjährige Mädchen ohne Englischkenntnisse allein auf Transatlantikfahrt schicken könne. Ein Onkel aus Pilsen erkundigte sich, ob in den kalifornischen Plantagen schon Honig in großem Stil produziert werde. Ein Cousin aus Erfurt bat um Vermittlung einer Stelle als Deutschlehrer an einer Highschool. Die meisten dieser Briefe waren in durchaus sachlichem und heiterem Ton gehalten, jeder einzelne hätte für sich genommen keinen Anlass zur Sorge gegeben – wenn nicht in allen derselbe grauenvolle Ton bemühter Ironie, flapsigen Witzes und angestrengter Hemdsärmeligkeit angeklungen hätte, der nackter Todesangst entsprang.
Je mehr solche Briefe bei ihm eintrafen, je höher sie sich stapelten auf dem kleinen Regal am Kopfende seines Bettes, desto stärker empfand Felix Bloch das unausgesprochene Grauen, das ihnen entströmte. Es war das Grauen über schon begangene oder noch bevorstehende Verbrechen; über uniformierte Schulbuben, die ungestraft mit Eisenstangen durch die Innenstädte zogen und Schaufenster einschlugen, über Stiefelgetrappel und berstende Wohnungstüren mitten in der Nacht, über Gewehrkolben, die auf die Köpfe von Großmüttern und Säuglingen niedergingen, über Plünderungen und Schreibmaschinen, die aus Fenstern flogen; über ausgerissene Bärte und brennende Synagogen und über Benzinrechnungen, die man den Rabbis nach begangener Brandstiftung überreichte; das Grauen über zersplitterte Brillen und Glasscherben, die tief in Augäpfel eindrangen, und über die Verzweifelten, die sich mit Veronal vergifteten, aus dem Fenster stürzten oder in die elektrisch geladenen Stacheldrahtverhaue gingen.
Dieses Grauen verfolgte Felix Bloch in den Schlaf und erwartete ihn morgens wieder beim Frühstück, und es quälte ihn umso mehr, als er sich selber in Sicherheit wusste. Für die Dauer des Unterrichts konnte er dieses Grauen vergessen, aber wenn er mittags am Steuer seines Chevrolet Sportster durch den kalifornischen Frühling nach Berkeley fuhr und lässig den linken Arm aus dem offenen Seitenfenster baumeln ließ, saß es ihm wieder im Nacken. Am meisten quälte es ihn, wenn er am Wochenende in die Berge fuhr, um zwischen den Mammutbäumen spazieren zu gehen.
Dann dachte er an die Unglücklichen, die man zur Strafe für erfundene Vergehen mit gefesselten Handgelenken an Baumäste hängte, dass die Armgelenke auskugelten und sie unter furchtbaren Schmerzen ohnmächtig wurden. Er dachte an jene, die kopfüber an Bäume gefesselt wurden, bis ihnen buchstäblich das Hirn im Schädel platzte, und an die tagelangen, kilometerweit hörbaren Schreie jener, die man mit dem Rücken gegen den Baum gefesselt hatte, dass die Zehenspitzen gerade eben den Boden berührten. Er dachte an jene, die paarweise an den Händen um Bäume gebunden wurden, sodass jede Schwäche des einen die Qualen des anderen verdoppelte, und an jene, die durch den Wald hatten fliehen können, bis sie im Unterholz von den Hunden eingeholt und zerbissen worden waren, worauf junge uniformierte Kerle sie an den Beinen zurück ins Lager geschleppt und in eine inwendig mit Stacheldraht ausgekleidete Kiste geworfen hatten, die sie mit Brettern zunagelten und unter brütender Sonne und in nächtlicher Kälte stehen ließen, bis die Gemarterten nach zwei oder drei Tagen endlich hatten sterben dürfen.
Die meisten Bäume in den Palo Alto Hills waren Kiefern der Gattung Sequoia sempervirens. Es kam so weit, dass Felix Bloch den Anblick ihrer rauhen, rotbraunen Rinde nicht mehr ertrug. Es gelang ihm nicht, sich einzureden, dass diese Bäume in einer anderen Welt ständen als die Bäume von Dachau; je tiefer er in den Wald ging und je länger er allein war, desto stärker empfand er im Gegenteil, dass alles Gleichzeitige ebenso gegenwärtig war wie das Vergangene und das Zukünftige.
Also hielt er sich von Bäumen fern. Um sich abzulenken und nicht allein sein zu müssen, blieb er an den Wochenenden auf dem Campus und nahm sogar an den Besäufnissen der Junggesellen teil. Und wenn er doch
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