Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
viertausendjährige Mauern als Fundamente für moderne Phantasiebauten zu benutzen.
Auch Architektur ist Metaphysik, sagte Evans. Ohne Metaphysik ist alles nichts.
Niemand kann wissen, ob sich dieses Gespräch genau so zugetragen hat, und es gibt keinen Beweis dafür, dass Emile junior die ganze Zeit geschwiegen hat. Aber man kann sich vorstellen, dass der junge Mann zum Zeitvertreib mit dem Bleistift aufs Papiertischtuch kritzelte, und dass Arthur Evans später am Abend, als Vater und Sohn Gilliéron sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, das Papiertischtuch an sich nahm, um es drinnen im Licht der Petrollampe zu studieren. Dann wäre es möglich, dass Evans an jenem Abend auf jenem Papier erstmals den Palast von Knossos zu sehen bekam, wie er ihn in all seiner Herrlichkeit seit vielen Jahren erträumt hatte – mit seinen Freitreppen und Zimmerfluchten und den charakteristischen rot-schwarzen, sich nach unten verjüngenden Säulen.
Historisch gesichert hingegen ist, dass in den folgenden Jahren, da Gilliéron senior noch das Sagen hatte und der Junior gehorchen musste, auf den Fundamenten von Knossos nichts gebaut wurde mit Ausnahme der großen Freitreppe neben dem Thronsaal. Und wahr ist auch, dass nur ein halbes Jahr nach des Seniors plötzlichem Herztod, der ihn wie eingangs erwähnt kurz vor dem dreiundsiebzigsten Geburtstag in einem Athener Restaurant ereilte, auf Knossos die Betonmischer auffuhren. Und wahr ist schließlich auch, dass in der Folge unter Anleitung von Emile Gilliéron junior der Palast des Minos auferstand, wie Evans ihn sich erträumt hatte – mit allen Freitreppen und Zimmerfluchten und den rot-schwarzen, sich nach unten verjüngenden Säulen. Das alte Ziegeldach auf dem Thronsaal wurde durch zwei lichtdurchflutete, säulenbewehrte Obergeschosse ersetzt. Im Süden strebte eine Halle himmelan, die Evans als das Zollhaus bezeichnete, im Westen entstand ein Bollwerk, deren Inneres Gilliéron junior mit einem Stier-Fresko schmückte. Und einen Steinwurf entfernt ließ Evans ein hübsches Landhaus als Unterkunft für sich und seine Gäste errichten, das er »Villa Ariadne« taufte.
So wuchs über die Jahre in Stahl und Beton Arthur Evans’ Traum vom Palast des König Minos aus der Ebene, und je höher und bunter er himmelan ragte, desto mehr Besucher strömten herbei, um sich eine Vorstellung von der Wiege der europäischen Kultur zu machen.
Heute ist der Palast von Knossos nach der Akropolis die meistbesuchte archäologische Stätte des östlichen Mittelmeers. Einige Touristen wundern sich, dass die Fresken an den Jugendstil der ausgehenden Belle Époque erinnern, während das Bauwerk selber mit seinen eleganten Formen und kräftigen Farben als typisches Beispiel des Art déco der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre gelten könnte. Und manche einheimischen Fremdenführer weisen stolz darauf hin, dass der Palast das älteste in Stahlbeton erstellte Bauwerk Kretas ist.
Über die Jahrzehnte hat der Zahn der Zeit an Arthur Evans’ Werk genagt, da und dort platzt der Beton und treten rostige Stahlträger und Armierungseisen hervor. Auch Emile Gilliérons Fresken haben unter dem feuchtwarmen Klima gelitten, an manchen Stellen hat sich der Mörtel von der Wand gelöst; die heutigen Restaurateure stehen vor dem Dilemma, sich in ihrer wissenschaftlichen Treue zwischen den neolithischen Fragmenten und Gilliérons Werk entscheiden zu müssen.
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Dann erreichten Felix Bloch im kalifornischen Exil die ersten Briefe aus der Heimat. Er erkannte die europäischen Umschläge auf den ersten Blick, wenn sie zwischen Fachzeitschriften und Zeitungen in seinem Postfach lagen, weil sie von anderer Farbe und anderem Format waren als die amerikanischen Couverts.
Alle drei oder vier Tage erhielt er einen Brief von seiner Mutter, die es nur schwer ertrug, dass ihr einziges am Leben gebliebenes Kind so weit weg war. Sie berichtete ihm von ihrem friedlichen Zürcher Alltag und vermied rücksichtsvoll jede Frage nach der Qualität seiner Unterkunft, Ernährung und Gesundheit, und meist fügte der Vater unter dem Abschiedsgruß der Mutter ein paar zärtlich-dürre Zeilen hinzu.
Wie alle Emigranten litt Felix darunter, dass er die Nachrichten von zu Hause mit entfernungsbedingter Verzögerung erhielt. Wenn er beispielsweise in einem Brief der Mutter las, dass sie sich beim Zwiebelschneiden in den Finger geschnitten habe, so hätte er gern sofort erfahren, ob die Wunde ordentlich verheilt war; wenn
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